Dummendorf - Roman
an? Das verstehe ich nicht.«
Nastja schaute ihn freundlich und ein wenig verwirrt an, als wäre er ein Kind und hätte gefragt, warum der Himmel blau ist und der Schnee kalt. Sie wollte ihm schon antworten, doch da näherte sich ein weiterer Bewohner des Dorfes.
»Ljonja«, stellte er sich mit wichtiger Miene vor und streckte Mitja eine dickliche Kinderhand hin. »Kennen Sie mich? Nein? Sehr seltsam. Ich bin der Präsident.«
»Der Präsident wovon?«, murmelte Mitja erschrocken.
»Der Präsident von allem«, antwortete Ljonja gewichtig und drehte sich geschäftig zu Nastja um. »Gratuliere! Ich habe eine neue Verordnung verfasst.«
»Zeigst du sie mir?«
Ljonja wurde plötzlich verlegen und scharrte mit der Turnschuhspitze auf dem Boden herum.
»Nur für dich«, entschied er schließlich und schielte ängstlich in Mitjas Richtung.
»Keine Angst«, ermunterte ihn Nastja. »Er ist nett.«
Ljonja seufzte und zog eine mit bunten Filzstiften beschriebene Heftseite aus der Tasche.
»Julia, du bist so wunderschön. Ich liebe dich«, las Nastja erstaunt.
»Ich hab’s verwechselt!«, rief Ljonja entsetzt. »Das ist ein Liebebrief! Sagt bloß Katja nichts davon! Okay, ich muss los. Ich habe ein Rendezvous. Ich muss Katja noch in der Käserei erwischen.«
»Und die Verordnung?«
»Später, später.« Ljonja winkte ab wie ein echter Beamter und raste los zu den Wirtschaftsgebäuden.
»Gleich wird er sich wieder irren und den Brief Katja geben!« seufzte Nastja. »Und dann weinen sie beide bis zum Abend. Wie oft haben wir ihm gesagt, er soll die Namen weglassen!«
Mitja wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Auf der Treppe eines der Häuser saß eine zerzauste Frau in einem unförmigen Pullover, deren ungepflegtes Äußeres Mitja an die verrückte Ljubka aus Mitino erinnerte, die er in seinen Alpträumen sah.
Der wie vor Verwunderung runde kleine Mund und die hilflos erhobenen weißblonden Brauen verrieten, dass die Frau Ausländerin war.
»Schon wieder eine Kontrolle?«, rief sie leidend.
»Nein, nein«, versicherte Nastja. »Das ist der Lehrer aus Mitino. Der ständig um uns herumgeschlichen ist, Sie erinnern sich?«
»Ah«, sagte die Frau, noch immer misstrauisch. »Und warum ist er hier herumgelaufen? Zum Spionieren?«
»Die Kundschafterin Nastja hat eine Zunge gefangengenommen!«, prustete ein schwarzhaariges Mädchen, das an einem Kindertisch auf der Veranda saß.
Mitja schaute aus den Augenwinkeln hin und schreckte zurück. Das Mädchen hatte ein erwachsenes, durchdringend kluges Gesicht und den Körper eines fünfjährigen Kindes.
»Ach, er hat ja mehr Angst vor uns als wir vor ihm!«, schloss sie und musterte den verwirrten Mitja unverhohlen.
»Und du verschreckst ihn noch extra, Lena.« Nastja nahm Mitja in Schutz. »Er ist kein Spion. Er ist bloß taktvoll. Deshalb ist er nicht einfach so hergekommen, ohne Einladung.«
Über Lenas Gesicht lief eine Welle bissigen Spotts, doch die zerzauste Frau ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Sarah«, sagte sie und schüttelte heftig Mitjas schweißnasse Hand. »Leiterin der Siedlung.«
»Ich wette, er hat Schweißhände!«, rief Lena und beugte sich über den Tisch.
Mitja hätte jetzt alles dafür gegeben, auf seinem Dachboden mit dem runden Fenster zu sitzen und von dort aus zu beobachten, wie die Schwalben durch die Abendluft kreuzen, wie sich das gewaltige Wolkenbild allmählich verändert und unten ein struppiger Kater majestätisch auf dem Zaun entlangschreitet.
Die zerzauste Sarah zeigte ihm das Haus – ein gemütlicher und großzügiger Bau, vollkommen unrussisch –, in dem in jedem Raum grässlich entstellte Wesen saßen, lagen und am Boden herumkrochen.
Hin und wieder waren auch normale darunter, meist Ausländer, die sich zu Mitjas Erstaunen vollkommen natürlich verhielten, als seien sie nicht von schrecklichen Krüppeln umgeben, sondern von Menschen, die genauso waren wie sie selbst.
Mit monotoner Stimme, ohne Punkt und Komma, erzählte Sarah von der Organisation ihres Lebens, von der Naturalienwirtschaft, von den Pflichten, die jeder hier hatte, Mitja aber brachte keinen Ton heraus, geschweige denn einen sinnvollen Satz.
Die Bewohner des Hauses verhielten sich unterschiedlich. Die einen schenkten Mitja keinerlei Beachtung, worüber er heilfroh war, andere kamen auf ihn zu gestürmt und waren ganz wild darauf, seine Bekanntschaft zu machen und ihn zu berühren, als sei er ein drolliges Tier.
Ich bin ja für sie auch so
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