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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Ruck die Hose hoch. Aus dem zugemüllten Straßengraben schaute ihn mit aufgerissenen Augen die Verrückte an. Wie der Blitz sprang er in die Fahrerkabine und gab Gas.
    Wowka war als Soldat an keinem Krisenherd gewesen, doch nicht kampfbedingte Verluste hatte es auch in seiner Einheit gegeben. Er hatte also schon mehrfach Tote gesehen, kannte diese letzte Reglosigkeit und konnte sie eindeutig von einer Ohnmacht oder einem Schnapskoma unterscheiden.
    Im Straßengraben lag ohne jeden Zweifel eine Tote.
    Wowka raste wie der Blitz durch den Kiefernwald, dann drosselte er das Tempo ein wenig. Der Kopf dröhnte ihm von fieberhaften Gedanken. Die Miliz anrufen? Im Dorf? Den Notarzt? Er fuhr immer langsamer. Mitten auf dem endlosen Feld fluchte er herzhaft und wendete.
    Schon von weitem sah er Ljubkas orangerote Weste und wunderte sich, dass er sie nicht früher bemerkt hatte, bei seiner letzten Fahrt. Seine Armeeerfahrung sagte ihm: Die Verrückte lag schon länger hier. Einen ganzen Tag, vielleicht auch zwei.
    Wowka streifte die Handschuhe über, mit denen er immer am Motor herumbastelte, zündete sich eine Zigarette an, um den Geruch zu überdecken, und stieg in den Straßengraben. Als Erstes schloss er Ljubka die Augen. Dann packte er sie unter den Armen und zog angestrengt. Die Verrückte stieß einen unmenschlichen Schrei aus. Wowka fuhr entsetzt zurück und flüchtete sich in seinen Bus; erst dort begriff er, dass es eine Krähe gewesen war, die auf einem dürren Ast saß und kreischte.
    Er rauchte die ganze Schachtel auf und kletterte erneut hinaus in den Regen. Ljubka schien in den letzten zwanzig Minuten noch schwerer geworden zu sein. Ohne zu fluchen – das hätte er nicht gewagt –, schleppte er sie irgendwie in den Bus und legte sie in den Gang.
     
    Als Vater Konstantin und Kostja vom Sägewerk zurückkamen, wo ihnen natürlich niemand geöffnet hatte, sahen sie den Bus vor dem Kirchenzaun stehen. Daneben stand Wowka im Regen. Dass er nicht im Bus saß, sondern sich nassregnen ließ, sagte alles. Der kleine Kostja packte die Hand des großen Kostja.
    »Geh nach Hause, wir machen das hier«, sagte der.
    Der Junge schüttelte entsetzt den Kopf.
    »Dann zu Serafima.«
    Kostja lief davon. Wowka und Vater Konstantin trugen Ljubka schweigend in die Hütte und legten sie auf den leeren Eichentisch.
     
    Zum Totenamt für Ljubka hatte sich fast das ganze Dorf versammelt. Nur Kostja verkroch sich im Keller, hinter einer Kiste, in der Jefim Farben aufbewahrte. Er ging nirgendwohin.
    Ljubka lag mitten in der Kirche, so schön angezogen, wie sie es in ihrem Leben niemals gewesen war. Jewdokija hatte ihr im Schrank gealtertes Abschlussballkleid aus himmelblauer Seide gestiftet. Wowka, schon am Morgen betrunken, hatte, sorgsam unter der Jacke versteckt, ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen mitgebracht, die er noch vor seiner Armeezeit, als er die Hochzeit plante, für seine treulose Freundin gekauft hatte.
    Vater Konstantin sprach das Totengebet, und die Gesichter der Menschen verschwammen vor seinen Augen, lösten sich auf und verschmolzen mit den Kerzenflammen. Anders als für Wowka war dies für ihn der erste Tod. Fast leblos tastete er sich dem unvermeidlichen Augenblick entgegen, da er etwas von sich aus sagen musste.
    Schließlich verstummte der Chor, der nur aus Klawdija bestand. Die Menge kam in Bewegung und trat an den Sarg. Vater Konstantin tat einen Schritt nach vorn, als schreite er in einen Abgrund, und vernahm seine eigene Stimme, die er nicht gleich erkannte:
    »Verzeih uns, Ljuba. Dir war kalt bei uns. Und jeder von uns hat sich an dir ein wenig schuldig gemacht.«
    »Sprechen Sie nur für sich«, sagte klar und deutlich der Rentner Gawrilow, der mit einer dicken Kerze in der Hand in der ersten Reihe stand. »Wir haben ihr keine Flaschen gekauft.«
    Wahre Totenstille trat ein.
    »Ich bringe ihn um«, sagte noch deutlicher irgendwo hinten Kostja, der doch noch erschienen war.
    Vater Konstantin schaute sich suchend nach Wowka um und nickte ihm zu. Der bekreuzigte sich unbeholfen und griff nach einer Ecke des Sargs.
     
    Draußen goss es noch immer, und auf dem Weg zum Friedhof wurde die Menge merklich dünner. Der alte Hund Parschiwka, der an einer Plastikblume nagte, zog beim Anblick der Menschen den Schwanz ein und fing an zu jaulen. Der düstere Pachomow holte aus, und Parschiwka machte einen Satz hinter die Gräber.
    »Ach, du Missgeburt«, krächzte der einstige Traktorist, der wie immer an seine

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