Dummendorf - Roman
Mit Mühe und Not schaffte er es bis zu seinem hohen Stuhl. Er verschnaufte und setzte sich, um zu warten, bis seine Liebste selbst zu ihm kommen würde.
Doch statt Fima kam der aufgeregte Untermieter zu den Lilien auf der Wiese gerannt.
»Wo ist denn meine Alte?«, fragte Jefim verloren.
»Sie kocht Konfitüre ein«, meldete Mitja rasch und platzte sogleich heraus: »Unterhalten wir uns ein bisschen!«
»Meine Güte! Was tun wir denn gerade?«
Mitja ließ sich auf einem umgedrehten Eimer nieder, holte ein Notizbuch hervor und setzte sogar seine Brille auf, womit er den Alten sehr erschreckte.
»Lauf und hol Fima, ohne sie rede ich nicht«, sagte er argwöhnisch.
Mitja wurde verlegen, und seine Erstarrung griff auf alles über, was ihn umgab, selbst die Blumen schienen misstrauisch zu werden und rollten die Blütenblätter ein. Die Sonne verkroch sich hinter einer ausgefransten Wolke und schaute ab und zu dahinter hervor wie ein Kind beim Versteckspiel.
Mitja verlor immer wieder den Mut, warf das Notizbuch ins Gras, verfluchte sich für seine Unfähigkeit im Umgang mit Menschen und begriff voller Bitterkeit, dass aus seinem Vorhaben nichts werden würde. Jefim schaute düster drein und verlangte nach seiner Frau, doch Serafima blieb weg, sie rührte in der großen Schüssel, in der rubinrote Kirschen schäumten.
Dann mussten sie Tee trinken, die heiße, noch schaumige Konfitüre von einer Untertasse löffeln und die aufdringlichen Wespen verscheuchen, und Mitja verabschiedete sich von dem, was er gestern noch für die Aufgabe seines Lebens gehalten hatte. Er leckte den Löffel ab und dachte mit der gewohnten Verzweiflung über seinen Platz in der Welt nach.
»Na, verhör mich schon, was kuckst du so finster?« Jefim war in Serafimas Gegenwart wieder aufgetaut und zwinkerte ihm zu.
Mitja vergaß vor Überraschung sämtliche vorbereiteten Fragen, und wie ein dressiertes Oktoberkind bei einer Begegnung mit Veteranen platzte er heraus:
»Erzählen Sie mir, wie Sie im Krieg gekämpft haben?«
»Was gibt’s da zu erzählen?« Der alte Mann zuckte die Achseln. »Auf Bauernart hab ich gekämpft. Bei der Infanterie. Meistens mit der Nase im Dreck.«
Jefim verstummte. Mitja überlegte fieberhaft, was er noch fragen könnte. Serafima rührte klirrend mit einem Löffel in ihrem Glas.
»Genau so einen Ton, nur reiner und feiner«, sagte der Alte mit einem Nicken in ihre Richtung, »hab ich am letzten Kriegstag gehört.«
»Am neunten Mai?«, erkundigte sich Mitja verwirrt.
»Am zwanzigsten Februar. Zweiundvierzig. Da war mein Krieg zu Ende.«
»Also, das war vor Moskau«, begann Jefim und schob seine eimergroße Tasse beiseite. »Im Herbst hatten wir die Deutschen ein wenig zurückgedrängt, aber als der Winter kam, geriet alles ins Stocken. Es ging nicht vorwärts und nicht zurück. Wir traten auf der Stelle, wie angewachsen.
Da schickte mich die Obrigkeit ins Nachbardorf, um irgendwas zu besorgen. Ein Katzensprung, vielleicht zehn Kilometer, quer durch den Wald. Aber wie’s der Teufel wollte – ich hab mich verirrt. Vor lauter Wut. Es hat mich geärgert, dass ich mir für irgendeinen Quatsch sinnlos die Füße wundlaufen sollte. Ich weiß gar nicht mehr, was sie so dringend haben wollten. Nichts Wichtiges, Sauerkraut oder so.
Jedenfalls, ich hab mich verirrt, in meiner Panik bin ich querfeldein gestiefelt, ich wollte den Weg abkürzen und bin nur noch weiter abgekommen, ich hab mir den Tarnmantel zerrissen und war gereizt wie ein streunender Bär. Und dann, was glaubst du! Dann bin ich einem Deutschen direkt in die Arme gelaufen. Die Front verlief ja in Schlangenlinien: wo wir lagen und wo sie – ein einziges Durcheinander. Jedenfalls war ich in einen feindlichen Abschnitt geraten.
Ich nichts wie weg, kopfüber in eine Schlucht. Aber Pustekuchen! Der Fritz hatte Skier, wir waren noch ohne. Auf dem nächsten Feld hat er mich eingeholt. Hände hoch !, brüllt er. Als ob ich das nicht selber wusste. Ich das Gewehr weggeworfen und die Hände gehoben. Stehe da und warte. Schönes Sauerkraut!
Und plötzlich spüre ich – die Sonne wärmt meine Hände. Schon wie im Frühling. Die Handschuhe hatte ich beim Abhauen verloren. Und jetzt blickte ich zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert um mich. In dieser letzten Sekunde, während der Deutsche seine Maschinenpistole durchlud. Genau der richtige Moment! Vorher war ja nie Zeit gewesen.
Weißt du überhaupt, wie schön die Welt ist, Mitja? Das hab
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