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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Zunge rausreißen«, erwiderte Mitja überraschend bissig, und endlich klappte der Rollstuhl zusammen.
    Mitja war zutiefst erschrocken über seine Worte. Er war überzeugt, Wowka würde sie nun nirgendwohin fahren, ja, sich womöglich noch mit ihm prügeln. Doch der wieherte nur los, grinste anzüglich und fragte:
    »Echt, wo wollt ihr hin? Aufs Standesamt oder was?«
    »Seit ihn die Braut verlassen hat, denkt er nur noch ans Standesamt«, sagte Lena scharf und sah aus dem Fenster.
    »Neidisch, du Schöne? Tja, davon kannst du nicht mal träumen.«
    »Was redest du da!« Mitja fuhr hoch. »Halt sofort den Mund!«
    »Hab ich nicht recht? Sie weiß doch selber Bescheid über sich!«
    Plötzlich verstummte Wowka, denn ihm wurde übel. Mit zusammengebissenen Zähnen klammerte er sich ans Lenkrad. Bis zur Kreisstadt fuhren sie in völligem Schweigen.
    Am Busbahnhof mühte sich Mitja wieder quälend lange mit dem Rollstuhl ab, Wowka fluchte halblaut, und Lena sah aus dem Fenster. Schließlich hatte Mitja den widerspenstigen Mechanismus bezwungen, stieg in den Bus und nahm Lena ungeschickt auf den Arm.
    »Ich bin doch kein Sack Kartoffeln!«, zischte sie.
    »Bitte hasse mich nicht«, bat Mitja hilflos. »Sonst schaffe ich das nicht.«
    »Genug geturtelt«, rief Wowka. »Ich komme wegen euch schon überall zu spät!«
     
    Der Bus in die Gebietshauptstadt fuhr erst in einer halben Stunde.
    »Möchtest du ein Eis?«, fragte Mitja, der keine Ahnung hatte, wie er die qualvolle Pause überbrücken sollte.
    »Ja«, reagierte Lena schlicht, ja fröhlich, und er rannte erleichtert los, über Pfützen springend.
    Lena, alleingelassen mitten auf dem Platz, wo die Gazellen aus dem Kreis und die Ikarusse aus dem Gebiet wendeten, biss sich auf die Lippe, doch als sie sah, wie Mitja sich wie ein Fragezeichen ins Kioskfenster beugte, musste sie unwillkürlich lächeln und rollte ihm nach.
    Zusammengekrümmt vor dem niedrigen Fenster, hinter dem eine unsichtbare Verkäuferin sich langweilte, machte Mitja eine wichtige Entdeckung: Ein Teil seiner Hemmungen Lena gegenüber rührte von ihrer unterschiedlichen Lage im Raum. Er war lang wie eine Giraffe, während Lena saß, und jedes Mal, wenn er sie ansprach, musste er sich hinunterbeugen, was der belanglosesten Äußerung eine peinliche Bedeutsamkeit verlieh.
    Als er das Eis gekauft hatte, parkte er den Rollstuhl dicht neben dem Trottoir und setzte sich auf die Bordsteinkante. Nun waren ihre Augen auf gleicher Höhe. Mitja erzählte Lena fast ohne jede Verlegenheit vom Wettbewerb der zerknitterten Rubelscheine, vom Goldzahn der Kreisschulchefin, von seiner Angst vor dem Dorf Kulebjakino, davon, wie er gekränkt seinen Ausweis liegengelassen hatte und wie er dann einfach aufs Geratewohl losgefahren war und den Ausruf des Fahrers Wowka für die Stimme des Schicksals gehalten hatte.
    Lena lachte, Mitjas Ohren leuchteten, und sein Herz flatterte wie eine Lerche am Himmel. Er war immer schrecklich aufgeregt, wenn er mit Mädchen sprach. Selbst bei den Archivmäusen am Institut, die ergeben Jahr für Jahr statt am Granit der Wissenschaft an der trockenen Rinde fremder Zitate nagten und vorsintflutliche Wollröcke trugen.
     
    Ihr Bus kam. Als sich Mitja mit Lena in den Armen vorsichtig durch den Gang zu seinem Platz schob, schrie ein kleiner Junge gellend durch den ganzen Bus:
    »Mama! Eine Liliputanerin! Fahren die in den Zirkus?«
    Mitja beugte sich instinktiv über Lena, als hätte jemand einen Stein auf sie geworfen.
    »Schon gut, reg dich nicht auf«, sagte sie ruhig. »Das höre ich mein Leben lang. Ich bin dran gewöhnt.«
    Sie drehte sich zum Fenster, Mitja ließ sich nach dem üblichen Gefecht mit dem Rollstuhl neben sie fallen, doch das Gespräch war abgerissen, und jeder saß in sein Schweigen gehüllt. Der Bus fuhr los, die Räder knirschten über den Asphalt. Die dünnen Arme einer Weide am Straßenrand glitten über die Fensterscheibe, mit seltsam schicksalsergebener, Abschied nehmender Zärtlichkeit.
    »Glaubst du an Gott?«, fragte Lena plötzlich.
    »Ich weiß nicht.«
    »Also, ich wüsste gern, wozu Er uns braucht. Was hat Er sich überhaupt gedacht, als Er uns schuf?«
    »Uns Menschen?«, fragte Mitja verwirrt.
    »Uns Krüppel!«
    »Da frag lieber Nastja.«
    »Deine Nastja ist dumm!«, tobte Lena. »Sie sagt, wir werden gebraucht, damit ihr euch um uns kümmert! Na klar! Wie um junge Hunde und Zimmerpflanzen! Zur rechten Zeit Gassi gehen und gießen! Die Idioten, schön und gut,

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