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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ich damals zum ersten Mal entdeckt. Wo habe ich nur mein Leben lang meine Augen gehabt? Wahrscheinlich in der Hosentasche, um sie zu schonen.
    Am Tag zuvor war alles getaut, und in der Nacht hatte es wieder Frost gegeben. Die nassen Zweige waren vereist und klirrten im Wind. Ein ganz feiner, anrührender Ton war das. Der ging einem durch und durch.
    Der Deutsche hat gesehen, dass ich lausche, und auch die Ohren gespitzt: Ob womöglich Verstärkung kommt. Das fand ich so komisch! Ich hab mit dem Kinn auf den Baum gezeigt. Aber er hat stur nur mich angestarrt. Schließlich konnte er sich nicht beherrschen – er war noch ein halbes Kind! – und schaute doch nach oben, die Maschinenpistole im Anschlag.
    Sein Gesicht hat gezuckt. Nur ein kleines bisschen. Da wusste ich, dass er es auch sieht. Und außerdem wusste ich, dass dies mein letzter Kriegstag ist. Eine Minute lang sahen wir uns an wie Menschen. Ich dachte sogar, er würde nicht schießen.
    Aber er hat geschossen. Ich fiel auf den Rücken. Und fing an zu lachen. So unsinnig erschien mir mein ganzes Leben. Womit hatte ich es verplempert? Ich hatte gekämpft, mir ein Bein ausgerissen, mich aufgeplustert. Aber die Sonne, die hatte ich nie gesehen! Die glitzernden Schneewehen, die goldenen Eiszapfen. Ich hatte nie die Stille gehört.
    Nur als Kind. Und in die Kindheit fiel ich zurück. Ich wurde wieder zum Säugling. Meine Mutter wiegt mich auf dem Schoß, summt mir etwas vor, pustet mir ins Gesicht …
    Und plötzlich ist da nicht mehr sie, sondern eine Hundeschnauze. Eine Zunge, rauh wie Sandpapier, leckt mir die Wange. Ich kam wieder zu mir, schaute mich um – ich liege auf dem Feld. Die Sonne ist untergegangen. Also liege ich schon lange da. Der Schnee unter mir ist voller Blut. Um mich herum Skispuren. Von dem Deutschen. Der ist wohl rumgelaufen und hat überlegt, ob er mich töten oder liegenlassen soll.
    Als er auf mich anlegte, muss ich ihm leid getan haben. Er schoss mir nur in die Schulter. Aus drei Schritt Entfernung! Er war ein halbes Kind. Er hatte sich noch keine Panzerhaut zugelegt.
    Ich hab mich irgendwie hochgerappelt. Und bin dem Hund hinterher. Er hat mich geführt – genau in das Dorf, wo ich das Sauerkraut holen sollte. Da hab ich bis zum Frühjahr im Fieber gelegen. Bei einer alten Frau auf dem Ofen. Als ich dann ins Lazarett kam, war’s schon zu spät – ich hatte Faulbrand im Arm. Sie haben ihn mir abgeschnitten und mich ins Hinterland geschickt. Das war also wirklich mein letzter Kriegstag.
    Ich bin heimgekehrt und hab Serafima geheiratet. Seitdem wandle ich unter der Sonne. Und kümmere mich nicht um das eitle Treiben der Menschen. Dafür habe ich keine Zeit. Ich lebe mein Leben. Das ist eine ernste Angelegenheit, weißt du. Was anderes als Wahlen zum Kreissowjet.«
     
    »Das heißt«, sagte Mitja langsam, »die einzige Aufgabe im Leben ist das Leben selbst?«
    »Aber ja!«
    »So kann ich nicht denken. Vielleicht, weil ich nie im Krieg war. Jedenfalls denke ich immer, einfach nur leben, das ist beschämend. Man muss seine Existenz doch durch noch irgendetwas rechtfertigen. Ich bin ja keine Blume im Beet!«
    »So eine Blume, die weiß mehr über das Leben als du. Sie weiß, dass sie keine Rechtfertigung braucht. Sie ist einfach da.«
    »Was reden Sie denn da! Pflanzen haben kein Bewusstsein. Das ist eine ausschließlich menschliche Bürde. Darum sind uns die rein vegetativen Freuden des Daseins zu wenig. Wir brauchen mehr. Nicht nur das Leben selbst, sondern auch eine Aufgabe!«
    »Psst!«, machte Jefim plötzlich und nickte zu der eingedösten Serafima hinüber.
    Sie saß da, den Kopf auf die Brust gesenkt, und schniefte leise.
    Mitja überkam wieder einmal bittere, nagende Zärtlichkeit. Er empfand quälendes Mitleid. Mit Fima. Mit den alten Frauen aus seiner Kindheit, die längst gestorben, für ihn aber noch immer lebendig waren. Mit seinen alternden Eltern. Mit allen Menschen, die dem unvermeidlichen Tod entgegengingen. Mit Nastja, die er für nichts und wieder nichts gekränkt hatte. Mit dem Präsidenten Ljonja mit seinen Verordnungen und Liebebriefen. Mit Stas, der sich um seinen Stil sorgte …
    Mitja stand vorsichtig auf und durchquerte Garten, ohne den Weg zu sehen.
    In einem verborgenen Winkel seines Bewusstseins ahnte er, dass die Antwort irgendwo hier lag. In seinem heftig pochenden Herzen.

ZWÖLFTES KAPITEL
Im Regen
    Zur selben Zeit träumte Serafima von Ljubka. Sie saß in einem himmelblauen Kleid auf der Wiese, lächelte

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