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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mann da, dieser Gawrilow. Was haben wir ihm getan? Warum ist hier alles so absurd?«
    »Der Wille zum Tod!«, sprach Dietrich, einen Finger erhoben. »Russland will ja gar nicht leben. Es will für immer verschwinden.«
    »Das ist zu hart ausgedrückt«, wandte Mitja unsicher ein.
    »Bei euch hinterm Dorf ist eine große Müllkippe.« Wegen des Motorgeheuls hatte Dietrich ihn nicht gehört. »Direkt überm Fluss. Jeden Frühling Schnee taut, Gifte ins Wasser. Und Leute trinken das. Ich erklären. Sie lachen! Wir haben Kehlen aus Eisen . Wir trinken Frostschutzmittel, wir trinken Gesichtslotion. Da willst du Angst machen vor Müll! Ich sage: Aber die Kinder! Und sie: Sollen sich dran gewöhnen! Was ist das? Kollektiver Selbstmord? Eine Sekte? Nein, gewöhnliche russische Seele!«
    »Oder zum Beispiel Lena«, fiel Sarah ein. »Sie muss ihren Behindertenstatus jedes Jahr neu bestätigen lassen! Muss beweisen, dass ihre unheilbare Krankheit nicht kuriert ist und sie ihre Rente zu Recht bekommt. Dafür muss sie Bescheinigungen sammeln, Untersuchungen machen lassen. Überall muss sie selber hin. Und nirgends gibt es Rollstuhlrampen. In einer Einrichtung, die für Behinderte zuständig ist! Letztes Jahr ist Paul mit ihr hingefahren – und wurde ausgewiesen! Sein Visum war ja abgelaufen! Wir dürfen bei keiner offiziellen Stelle auftauchen! Was sollen wir tun? Nastja schicken? Aber da braucht es einen Mann! Den Rollstuhl tragen, Lena rausheben …«
    »Lassen Sie mich fahren«, schlug Mitja schicksalsergeben vor.
    Sarah sah ihn zweifelnd an.
    »Eine großartige Idee!«, rief Dietrich. »Komm morgen früh!«
     
    Wieder zu Hause, stellte Mitja fest, dass an seinem Platz am Küchentisch Kostja saß, das Heimkind. Der Junge starrte ihn so hasserfüllt an, dass Mitja, obwohl er hungrig und durchgefroren war, auf das Abendbrot verzichtete und auf den Dachboden kroch.
    Ljubka sollte am nächsten Morgen beerdigt werden. Völlig überdreht von der schlaflosen Nacht, lief Mitja fast freudig ins Dummendorf. Lena, die ihm animalische Angst einflößte, war immer noch weniger unheimlich als das leere Haus, der Heimjunge im Keller und die tote Verrückte.
    Doch die Fahrt in die Stadt fiel aus. Jemand hatte Dietrich, der sie eigentlich in die Kreisstadt fahren wollte, in der Nacht alle vier Räder gestohlen. Mitja drückte sich eine Weile in der Kommune herum, in der offenkundig niemandem der Sinn nach ihm stand, fasste sich dann ein Herz und machte sich auf den Rückweg. Zur ersten Beerdigung seines Lebens. In der heimlichen Hoffnung, dass sie schon vorbei war.
     
    Er erreichte das Dorf genau in dem Moment, als die Tote aus der Kirche getragen wurde. Der betrunkene Wowka rutschte auf der Treppe aus, der Sarg neigte sich, ein himmelblaues Kleid blitzte auf. Mitja, der auf den Stufen stand, hielt in einer für ihn ganz untypischen raschen Reaktion die Schulter hin. Die spitze Ecke stieß schmerzhaft gegen sein Schlüsselbein.
    Er drehte sich verwirrt um und sah, dass Wowka in eine Pfütze gefallen war; selig lächelnd lag er da und hatte keine Eile, aufzustehen. Um ihn herum waren nur Frauen und Alte.
    »Nicht mal anständig beerdigen können sie einen«, schluchzte Jewdokija. »Beinahe hättet ihr sie rausgekippt! Ach, ihr Kerle!«
    »Warte, zu Hause zeig ich dir, was ein Kerl ist!«, versprach ihr Mann mit unsicherer Stimme. »Du wirst schon sehen!«
    »Geht’s jetzt weiter oder was?« Der Traktorist Pachomow, der den Sarg am anderen Ende trug, drehte sich um.
    Mitja packte geschickt an, und sie trugen Ljubka auf den Friedhof. Neben ihm stapfte der Heimjunge Kostja durch den schlammigen Lehm, und bald war Mitja von Kopf bis Fuß mit Dreck bespritzt.
    Auf dem Friedhof fiel ihm die klägliche Miene des jungen Priesters auf. Mitja, der Vater Konstantin immer aus dem Weg gegangen war, verspürte den unbändigen Wunsch, zu ihm zu gehen und ihm etwas Schlichtes und Freundliches zu sagen. Doch ihm fiel nichts ein.
     
    Erst nach einer Woche, als Wowka, geschwächt und mit einer Riesenbeule auf der Stirn, ächzend wieder seine Tour aufnahm, fuhr Mitja mit Lena in die Stadt. Er hatte sie bereits in den Bus gesetzt und mühte sich krampfhaft, den Rollstuhl zusammenzuklappen.
    »Was treibt ihr euch überall rum?« Wowka hatte die Fahrertür einen Spalt geöffnet und spuckte aus. »Solche wie die, die würde ich hinter Stacheldraht halten, damit normalen Menschen nicht das Kotzen kommt von ihrem Anblick.«
    »Und ich würde solchen wie dir die

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