Dummendorf - Roman
Herumtreiberin Swetka dachte. »Ich kriege dich. Lass mir nur Zeit.«
»Das ist ein Werwolf«, flüsterte Klawdija überzeugt und spuckte sich drei Mal über die linke Schulter.
DREIZEHNTES KAPITEL
Lena
Das Leben selbst schien Mitja fernzuhalten von Orten, die vom Tod gezeichnet waren. Als seine Großmutter starb, buddelte er zweihundert Kilometer von zu Hause eine alte Stadt aus. Und kehrte in die leere Wohnung zurück. Die Beerdigung der anderen alten Frauen, die er kannte, ereilten Mitja stets während einer Prüfung, einer Bronchitis oder bei einem Rohrbruch.
Auch diesmal sollte alles nach dem bewährten Muster verlaufen. Wenige Stunden bevor Wowka die Tote im Kiefernwald fand, war Mitja ins Kreisarchiv gefahren, wo er Dokumente zur Geschichte von Mitino zu finden hoffte.
Am Abend stand er auf dem Platz vorm Busbahnhof und rieb sich mit dem Ärmel die vom angestrengten Lesen tränenden Augen. Doch er wartete vergeblich auf die Gazelle . Wowka hatte Ljubka ins Dorf gebracht, anschließend verdientermaßen angefangen zu trinken und seine letzte Tour nicht angetreten; andere Fahrer gab es für diese Route nicht.
Alles lief also darauf hinaus, dass Mitja erst wieder auf seinen Dachboden zurückkehren würde, wenn mindestens eine Woche vergangen und das Leben, vom Tod in ein Davor und ein Danach gespalten, wieder zusammengewachsen und in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt war.
Er hätte ein Zimmer in dem Hotel für Dienstreisende nehmen können, wo auf den Fensterbrettern Zwiebeln getrocknet wurden und im Foyer ein Bild des Präsidenten hing und ein Hirschgeweih, auf dem sich der Staub von vielen Jahren sammelte.
Er hätte seine Eltern besuchen, dann vielleicht in der Uni vorbeischauen und, als wäre nichts geschehen, das neue Studienjahr beginnen können, das in wenigen Tagen anbrach.
Das alles ging Mitja durch den Kopf, als er in dem scheußlichen Nieselregen stand und wartete. Es dämmerte. Bis zum Expressbus nach Moskau blieben noch vierzig Minuten. Das Landleben kam ihm jetzt bereits vor wie ein glücklicher und anstrengender Traum, den irgendein anderer vor langer Zeit geträumt hatte. Er hatte sogar schon im Kopf, wie er seine Dissertation umschreiben musste, um zur Verteidigung zugelassen zu werden.
Neben ihm hielt ein Laster, und während Mitja bereits an seiner Festrede für die Promotionsfeier bastelte, rief jemand seinen Namen.
»Kommen Sie mit?«, wiederholte Sarah ungeduldig, aus der Fahrerkabine gebeugt, und Mitja sprang ohne nachzudenken aufs Trittbrett.
Am Steuer saß der rotwangige Dietrich. Er und Sarah waren auf dem Rückweg aus der Kreisstadt, wo sie eine rätselhafte Vorrichtung zur Müllverarbeitung gekauft hatten.
Mit der Begeisterung eines Premierenbesuchers beschrieb der Deutsche die Vorzüge der Müllanlage. Mitja nickte wie ein chinesischer Buddha, und die Verteidigung seiner Dissertation erschien ihm auf einmal wie ein weit entfernter Traum.
Dann redete Sarah, und wieder erschien jener Ausdruck von Verwunderung auf ihrem Gesicht. Sie klagte, die Fahrt in die Stadt sei für sie immer ein riskantes Abenteuer. Die Freiwilligen lebten illegal hier, jede Ausweiskontrolle könne für sie mit einer Katastrophe enden. Die Arbeitsvisa seien nur drei Jahre gültig und inzwischen abgelaufen; um neue zu bekommen, hätten sie nach Hause fahren und dort monatelang auf eine Genehmigung der russischen Botschaft warten müssen.
»Aber dann bricht das Leben in der Siedlung zusammen«, rief Sarah, bei jedem Schlagloch auf ihrem Sitz hüpfend. »Jeder hat seine Aufgabe! Solange keine Ablösung da ist, darf keiner weg! Und aus dem Ausland kommt schon lange niemand mehr zu uns! Die Leute sehen die reichen Russen, die sich Villen in Nizza und ganze Fußballklubs kaufen und denken: In Russland geht es den Menschen gut, die brauchen unsere Hilfe nicht mehr.«
»Wir hatten gehofft«, fuhr Sarah fort, ohne Mitjas Reaktion abzuwarten, »dass uns russische Freiwillige ablösen würden und wir wieder nach Hause fahren könnten. Aber in den fünf Jahren ist nur Nastja hergekommen. Dafür besuchen uns oft Journalisten, und jeder fragt: ›Warum tun Sie das?‹ Was für eine schwachsinnige Frage! Gesunde helfen Kranken, Starke helfen Schwachen. Ist das denn nicht normal?«
»Na schön«, Sarah schaute Mitja nicht mehr an, »ihr hier wollt das nicht selbst machen. Ich will niemanden verurteilen. Doch dann lasst uns wenigstens in Ruhe arbeiten! Wir wollen! Aber nein! Visa, Drohungen, Kontrollen. Euer
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