Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
denen geht alles am Arsch vorbei. Aber ich, ich kriege alles mit! Wie soll ich mich fühlen, so als Gummibaum im Topf?«
    »Aber die Menschen kümmern sich doch nicht nur um Haustiere«, wandte Mitja unsicher ein, »sondern auch um Kinder und um Alte. Und überhaupt umeinander. Was ist daran schlecht? Die alte Serafima, bei der ich wohne, bringt mir jeden Morgen eine Schüssel Beeren. Demütigt mich das etwa? Nein, es rührt mich zu Tränen.«
    »Natürlich! Weil du ja selber gehen und Beeren ernten könntest! Aber wenn du mich in den Bus schleppst, in den ich ohne fremde Hilfe nie im Leben reinkäme …«
    »Aber dafür kannst du andere Dinge, die ich nicht kann.«
    »Was denn?«
    »Du bist innerlich stark, und ich bin schwach, willenlos«, sagte Mitja überraschend enthusiastisch, obwohl er einen Moment zuvor noch nicht gewusst hatte, was er antworten sollte. »Du bist furchtlos, und ich habe vor allem Angst. Du kannst rein physisch nicht laufen. Aber ich kann es auch nicht! Existentiell gesehen. Generell, so im Leben.«
    »Warum?«
    »Weil ich den Weg nicht weiß. Wohin gehe ich? Und vor allem – weshalb? Darum trete ich auf der Stelle. Zweifle an allem. Aber die Zeit vergeht. Ich bin fast dreißig! Und ich habe noch nichts getan! Keinen einzigen Schritt.«
    »Aber du bist doch zum Beispiel hergekommen.«
    »Das war gar nicht ich. Das hat sich so ergeben, durch Zufall!«
    »Aber du hast es nicht verhindert – das muss man auch können«, sagte Lena, und Mitja bemerkte voller Freude, dass sie die Rollen getauscht hatten, dass nun sie ihn tröstete. »Vielleicht ist das sogar richtiger: Das Leben geschehen lassen, ihm nicht seine eigene Richtung aufzwingen. Wirklich, ich finde nichts schlimmer als Menschen, die wissen, wohin sie wollen, und die geradewegs auf ihr Ziel losmarschieren. Sie bemerken das Leben gar nicht. Und zerstören es mit Leichtigkeit. Das eigene und fremdes.«
    »Mag sein. In der Geschichte ist es tatsächlich so.«
    »Was heißt in der Geschichte. Als die Sowjetunion zerfiel, ging in meiner Heimat ein Wahnsinnsgemetzel los! Bis dahin haben alle einfach nebeneinander gelebt, keiner hat den anderen gestört. Doch dann gab es plötzlich ein Ziel: die Unabhängigkeit. Und da haben diese zielstrebigen Leute Maschinenpistolen in die Hand genommen und sind losgerannt, ihre Nachbarn umbringen. Nach dem Motto: Haut ab, das ist unser Land. Das hätten wir ja gern getan, aber es fuhren keine Züge, die Bahnlinie war gesprengt. Uns haben sie nicht angerührt – aber nur weil sie abergläubisch sind: Man darf keine Krüppel töten, sonst wendet sich das Glück von einem ab.«
    »Und wie habt ihr euch gerettet?«
    »Das Rote Kreuz hat uns mit Hubschraubern evakuiert.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Weiß ich nicht mehr. Zehn, glaube ich.«
    »Ach! Dann sind wir ja fast gleich alt.«
    Sie verstummten, und zum ersten Mal fiel Mitja das Schweigen leicht. Er schaute aus dem Fenster, hinter dem schon graue Reihen mehrstöckiger Häuser auftauchten, und registrierte erstaunt seine eigene Ruhe – sie war tief wie ein Brunnen.
     
    In der Stadt hatten sie überraschend Glück. Alle Instanzen, die sie durchlaufen mussten, hatten Sprechstunde, es gab kaum Schlangen, und am Abend war Lena bereits im Besitz ihrer, wie sie sich ausdrückte, Bescheinigung, dass ihr keine Beine gewachsen waren .
    Bis zur Rückfahrt blieben ihnen noch ein paar Stunden, und sie gingen zur Uferpromenade, wo es von Kindern, Tauben und Radfahrern wimmelte. Der kleine Fluss, der Mitja nach der winzigen Bitjuga riesig vorkam, plätscherte gegen die gemauerte Böschung. Angler blickten auf ihre Schwimmer. Möwen schrien. Mädchenabsätze klapperten. In der Ferne ratterte eine Straßenbahn über eine Brücke.
    Mitja schaute sich mit dem Entzücken des Dörflers um. So viele unbekannte Gesichter, bunte Kleider, Töne, so viel Bewegung und Farbigkeit! Das alltägliche Treiben, die ganze Provinzszenerie kam ihm vor wie eine Art Volksfest. Und wie um diesen Eindruck zu unterstreichen, spielte an der Uferpromenade ein Blasorchester.
    Die Musiker auf den Segeltuchklappstühlen waren im Nu von Menschen umringt. Einige ältere Damen begannen miteinander zu tanzen, wie in Zeitlupe und stark hinter dem Rhythmus hinterherhinkend.
    Ein angetrunkener alter Mann, krebsrot vor Vergnügen, hielt sich am Geländer fest und schleuderte die einsamen Knie hoch. Daneben stampften eng umschlungen zwei langhaarige Jugendliche in weiten schwarzen Gewändern und schweren

Weitere Kostenlose Bücher