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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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bringen, wieder runterzukommen.
    Als Erste ging Katja, Ljonjas offizielle Passion, zur Beichte. Sie war die Munterste und Kontaktfreudigste, deshalb mochte er sie ja so.
    »Ich weiß, wo Gott ist«, erklärte sie Vater Konstantin.
    »Wo denn?«
    »Weißt du das nicht?!«, fragte Katja erfreut zurück und zog ihn zum Kruzifix. »Da. Da hängt er. Und schaut herunter. Er liebt alle. Das hat mir Nastja gezeigt. Du bist auch nett. Aber der frühere Batjuschka, der hat mich hier nicht reingelassen.«
    »Warum nicht?«
    Katja zuckte die Achseln. Sie litt am Down-Syndrom. Aber sie war sich ihrer Krankheit nicht bewusst.
     
    Nachdem der Rentner Gawrilow die Denunziation an die Einwanderungsbehörde abgeschickt hatte, bog er zur Kirche ab, um zu sehen, wie Vater Konstantin allein mit dem Gottesdienst fertigwurde. Er stellte sich auf Zehenspitzen, schaute durchs Fenster und traute seinen Augen nicht – die Kirche war voll. Viel voller als sonst.
    »Ach, du kleines Biest!« Er stieß einen Pfiff aus, als er in der Menge die glücklich lächelnde Nastja entdeckte. »Na warte. Dich bring ich noch zum Heulen.«
    Und trabte los, um eine Beschwerde ans Gesundheitsministerium zu verfassen.
    Bedingungen nicht angemessen , schrieb Gawrilow wütend und vernachlässigte vor Aufregung den Stil. Keine medizinische Versorgung. Schwere körperliche Arbeit. Vollkommen unbeaufsichtigt. Religiöse Propaganda, die das von der Verfassung garantierte Recht der psychisch kranken Bürger auf Glaubensfreiheit verletzt.

FÜNFZEHNTES KAPITEL
Erster September
    Der Morgen war trübe und matt, als peinigte auch ihn ein schwerer Kater. Der Himmel, grau wie eine Wattejacke, umschloss die Gärten des Dorfes von allen Seiten. Bäume, Zäune, ja selbst die Häuser schienen sich zu ducken, weil sie keine Kraft mehr hatten, aufrecht zu stehen. Nur die Vogelscheuchen ragten schief und munter aus den Kohlbeeten.
    Doch als dem Busfahrer Wowka einfiel, was für ein Tag heute war, überflutete ihn ein Glücksgefühl, das allerdings sogleich einer Welle von Übelkeit wich. Schon fünf Jahre ging er nicht mehr zur Schule, doch noch immer freute er sich an jedem ersten September über die langersehnte Freiheit.
    »Das muss gefeiert werden!«, gähnte Wowka und betrachtete vom Fenster aus die Prozession herausgeputzter Schüler mit Ranzen und Blumensträußen.
    Der dreijährige Minkin hingegen wusste seine vorschulische Freiheit noch nicht zu schätzen. Er schaute in den Pappkarton unter der Ladentreppe, in dem sein Freund wohnte, ein tolpatschiger Welpe, traf ihn aber nicht an und stapfte entschlossen zur weit entfernten Schule, um den unerbittlichen Fünftklässlern zu zeigen, dass er kein bisschen schlechter war als sie.
     
    Vor der Schultreppe waren alle elf Schüler und der neue Geschichtslehrer versammelt. Sie warteten auf die Direktorin, doch anstelle von Jewdokija Pawlowna erschien Klawdija Iwanowna, einen violetten Spitzenhut mit Schleier auf dem Kopf; sie war am Vortag von ihrer Pilgerreise zurückgekehrt.
    »Sie ist doch in Rente!«, sagte Ilja Sergeitsch entsetzt.
    »Vielleicht hat die Langeweile sie hergetrieben?«, mutmaßte Wanka.
    Vitka war damit beschäftigt, den ungebetenen Minkin zu verscheuchen.
    »Da, siehst du, Klawdija schleicht hier rum und schaut, wem sie was beibringen kann«, flüsterte er dem Vorschüler ins Ohr und schubste ihn unauffällig zum Tor. »Uns hat sie genug gequält. Jetzt bist du dran, gleich schnappt sie sich dich.«
    Klawdija Iwanowna nahm Mitja beiseite und teilte ihm verschwörerisch mit, dass Jewdokija heute nicht kommen könne, da sie gestern ihrem Mann in die Finger geraten sei, der von ihren Besuchen bei der weisen Frau in Marjino erfahren habe und seine Frau verdächtige, ihn durch Hexerei loswerden zu wollen.
    »Und jetzt?« Mitja war erschrocken. »Wie soll ich denn ganz allein?!«
    Klawdija, die ihre Entsendung in den verdienten Ruhestand als unverdiente Kränkung empfand, sagte majestätisch ihre Hilfe zu. Zurück auf dem Schulhof, nun nicht mehr zufälliger Gast, sondern ein General, der die Parade abnimmt, ging sie die Treppe hinauf, breitete die Arme aus und kommandierte laut:
    »Siebte Klasse umziehen und in die Kartoffeln!«
    »Kein Grund, das Gesicht zu verziehen, meine Herren«, rügte sie zwei baumlange Siebtklässler. »Ihr habt den ganzen Sommer in Ferienlagern herumgegammelt. Jetzt geruht mal ein bisschen zu arbeiten.«
    »Die Elfte hat Literatur. Jewdokija Pawlowna wird vertreten von Dmitri … Wie

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