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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Satz auf den Beinen, rückte sein Jackett zurecht und setzte ein braves Gesicht auf.
    »Nicht doch, du hättest ruhig so weiterlaufen können«, sagte Vater Konstantin lächelnd.
    »Ich muss sowieso die Bücher tragen«, seufzte der Fünftklässler. »Ach, schade, dass Kostja weg ist. Er hätte dieser Zicke was erzählt, von wegen Alphabet! Wir sind erwachsen! Aber sie!«
    Ilja Sergeitsch zog eine Leidensmiene und holte die Fibeln aus dem Schrank. Vater Konstantin trat hinaus auf die Treppe. Aus einem offenen Fenster drang die ein wenig dumpfe Stimme des neuen Geschichtslehrers.
    »Professor Preobrashenskis Verhältnis zu Scharik demonstriert das Verhältnis der Intelligenz zum Volk, wie es das ganze 19. Jahrhundert hindurch aussah. Eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Der einfache Mensch war für die russische gebildete Schicht immer eine Art Versuchskaninchen. Sprachloses Material zur Verwirklichung aller möglichen Utopien.
    Im 19. Jahrhundert wurden Hunderttausende Seiten über das Volk geschrieben, aber nirgends hat man das Gefühl, dass von lebendigen Menschen die Rede ist. Immer herrscht darin dieser unerträgliche unpersönliche Ton, als ginge es um etwas wie zum Beispiel Gartenarbeit. Man muss das Volk retten, aufklären, befreien. Da hört man doch förmlich: pfropfen, düngen, beschneiden.
    Und dann die unvorhersehbare Frucht dieser gärtnerischen Verachtung – die Revolution. Dasselbe Volk, in dem dank der Bemühungen von Generationen der russischen Intelligenz ein Bewusstsein erwacht ist, dieses verwandelte Volk, vom sprachlosen Objekt zum handelnden Subjekt geworden, dieses Volk kommt nun in klobigen Kunstlederstiefeln daher und nimmt seinem Schöpfer und Wohltäter Wohnraum weg. Ist das Undankbarkeit? Eine Überraschung? Ich meine – es ist eine Gesetzmäßigkeit.«
    Mitja holte tief Luft. Schon lange sah er die abwesenden Blicke seiner Zuhörer und wusste, dass alle, außer vielleicht Sanja, abgeschaltet hatten. Aber er konnte nicht aufhören. Als er endlich verstummte und den Blick durch die Klasse schweifen ließ, geriet Bewegung in die dösige Stille.
    Gleich stellt er Fragen!, blinkte die Alarmleuchte auf allen Gesichtern.
    »Sagen Sie«, sagte Sanja heiser und stand aus alter Gewohnheit auf, »Sie als gebildeter Mensch, Sie sind hierher gekommen, in unser rückständiges Dorf, wo alle trinken und kaum jemand eins und eins zusammenzählen kann. Aus welchen Motiven? Auch zum Kultivieren und Bearbeiten? Haben Sie keine Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte?«
    »Sanja! Du ahnst gar nicht, wie sehr du ins Schwarze getroffen hast!«, rief Mitja. »Seit ich zum ersten Mal mit der Geschichte in Berührung gekommen bin, ist meine größte Angst, dass sie sich wiederholen könnte! Und genau darüber möchte ich mit euch reden! Aber um auf deine Frage zu antworten: Nein, ich bin nicht zum Bearbeiten hergekommen.«
    »Wozu dann?«
    Mitja stockte einen Augenblick, begriff aber rasch, dass ihn nur die Wahrheit retten würde.
    »Siehst du, ich bin viel schlimmer als die Narodniki, über die ich gerade so heftig hergefallen bin. Im Gegensatz zu denen bin ich mit einem zutiefst persönlichen Ziel hergekommen.«
    »Mit welchem?« Sanja ließ nicht locker.
    Mitja seufzte schwer.
    »Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, wenn du es genau wissen willst.«
    »Sagen Sie bloß, Sie denken auch darüber nach?!«, rief Sanja, und sein unschönes Gesicht erstrahlte in einer Begeisterung, dass Angelique, die den Wortwechsel schläfrig mitverfolgt hatte, mit den angemalten Wimpern klimperte und sich endlich doch noch in den armen potthässlichen Sanja verliebte.
    »Es hat geklingelt!«, verkündete Klawdija, die zur Tür hereinschaute. »Heute ist früher Schluss! Ist schließlich erster Schultag!«
     
    Mitja ging hinaus auf den Hof und spürte, dass er in diesen anderthalb Stunden um Jahre erwachsener geworden war. Völlig ausgelaugt schaute er zu, wie die Fünftklässler einander mit ihren Ranzen verprügelten, wie der von Minkin angeschleppte Welpe herumsprang, wie Klawdijas violetter Hut über dem Zaun vorbeiglitt, und konnte nicht zu sich kommen.
    Soll das jetzt jeden Tag so werden?, fragte er sich erstaunt. Ob ich das lange durchhalte?
    Vater Konstantin, der die ganze Unterrichtsstunde unterm Fenster gestanden hatte, trat zu ihm und sagte ohne jede Einleitung, als setzte er ein unterbrochenes Gespräch fort:
    »Interessant, Ihre Geschichtskonzeption.«
    Mitja freute sich über das ihm einst verhasste Wort

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