Dummendorf - Roman
einen dicken Brief. Auf dem Umschlag stand: Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren , und darunter war, allerdings nicht sehr gekonnt, ein Totenschädel gemalt, aus dessen Augenhöhlen Tintentränen rannen.
Angelique, die Liebesromane vergötterte, las Sanjas Ergüsse in einem Atemzug: All die schönen Worte aus Büchern waren zum ersten Mal an sie persönlich gerichtet, und ihr schwirrte der Kopf vor Begeisterung.
Willst du mich lassen , schrieb Sanja, lass zuletzt mich nicht, wenn kleinre Schmerzen schon ihr Werk vollbracht, nein, komm zuerst, dass auf mich niederbricht zuerst das Schlimmste in des Schicksals Macht.
Und entgegen Sanjas Aufforderung beschloss Angelique sofort, bis an ihr Lebensende bei ihm zu bleiben und am selben Tag wie er zu sterben. Sie riss eine Seite aus einem Heft, stützte die Wange auf und grübelte über der Antwort. Das Schreiben fiel ihr schwer. Sie fing an, strich durch, zerknüllte das Papier und war den Tränen nahe, weil sie sich nicht ausdrücken konnte.
»Sag es mir einfach!«, krächzte Sanja gequält, der seit langem rittlings auf dem Zaun saß und sie durchs offene Fenster beobachtete.
Angelique kreischte, ließ den Stift fallen, sprang auf und machte das Licht aus. Dann schaute sie mit klopfendem Herzen hinaus auf den Hof. Sanja war vom Zaun gesprungen; er stand unten und streckte ihr bittend die Hände entgegen; mitleiderregend funkelten in der Dämmerung seine Brillengläser. Ohne lange zu überlegen, kletterte Angelique aufs Fensterbrett und hüpfte in seine Arme.
So ging das eine Woche lang. Bei Tageslicht verzog Angelique das Gesicht und wandte sich ab. Doch abends, nach einem weiteren mehrseitigen Brief, schmolz sie dahin und kapitulierte. Sanja, der kaum noch schlief, hatte schwarze Ringe unter den Augen und redete wirres Zeug.
Jewdokija, vom Zwist mit ihrem Mann genesen, kam wieder zur Arbeit und wusste vom ersten Moment an, was los war, im Gegensatz zu Mitja, der überhaupt nicht verstand, wieso Sanja plötzlich so rasant verblödete.
Zuerst bestellte sie Angelique ins Lehrerzimmer und machte ihr ernsthafte Vorhaltungen. Von denen sie sich nicht einmal durch die Liebeshoroskope, auf die Angelique das Gespräch geschickt zu lenken versuchte, abbringen ließ.
»Sei kein Biest«, sagte Jewdokija bestimmt. »Das bringt dir kein Glück. Das weiß ich auch ohne Horoskop.«
»Wieso bin ich ein Biest?«, fragte Angelique erstaunt.
»Für dich ist es nur ein Spaß, aber dem Jungen ist es ernst.«
»Vielleicht ist es mir ja auch ernst?«
»Mir musst du nichts vorlügen. Ich sehe, was ich sehe.«
Angelique fing an zu weinen und rannte aus dem Lehrerzimmer, ohne auch nur einen Blick auf Sanja zu werfen, der im Flur stand und litt. Er wollte ihr hinterher, doch Jewdokija rief ihn in unbeugsamem Direktorinnenton zu sich herein.
»Du bist ein kluger Mensch, aber du benimmst dich wie ein Dummkopf«, begann sie das pädagogische Gespräch mit dem unglücklichen Verliebten.
Sanja schniefte finster.
»Siehst du denn nicht selber, dass das Mädchen leichtfertig ist und unfähig zu großen Gefühlen? Bis jetzt jedenfalls.«
»Das sehe ich«, knarrte Sanja wie ein umstürzender Baum.
»Warum machst du dir dann was vor? Kennst du das Märchen vom Falter und der Kerze?«
»Ja, ja«, knurrte Sanja ungeduldig. »Er ist verbrannt.«
»Darum geht es nicht. Das ist ohnehin klar. Hör zu. Das hat mir Jefim erzählt, als ich mich über meinen Mann beklagt habe. Der Falter erblickte die Kerze und hielt sie für eine wunderschöne Blume. Geblendet flog er zu ihr, voller Sehnsucht, sich auf den herrlichen Blütenblättern zu wiegen. Und fing Feuer. Während er verbrannte, verfluchte er das Feuer. Doch das hielt ihm entgegen: ›Ist es denn meine Schuld, dass ich keine Blume bin, sondern eine Flamme?‹«
»Das heißt, nicht die Flamme hat ihn zugrunde gerichtet, sondern seine eigene Dummheit.« Sanja lachte unfroh. »Sehr lehrreich. Danke. Da hab ich was zum Nachdenken.«
An diesem Abend war Angelique fest entschlossen, kein Biest zu sein, sie zog die Vorhänge zu und setzte sich an die Enträtselung trigonometrischer Gleichungen. Insgeheim wartete sie natürlich auf Sanjas allabendlichen Brief, doch der blieb zu ihrem Ärger aus.
Also ging Angelique hinaus auf die Straße. Sie spazierte bis zum Laden, kaufte Brot, dann rief sie Ilja Sergeitsch heran, der kopfunter im Apfelbaum hing, und fragte gleichgültig:
»Na, keine Briefe heute?«
»Nee«, winkte der
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