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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Konzeption« und begriff plötzlich, dass er sich seit geraumer Zeit mit niemandem mehr in seiner Sprache ausgetauscht hatte. Er stürzte sich in das Gespräch und vergaß darüber ganz das prinzipielle Misstrauen, das er eigentlich jedem Diener der Kirche entgegenbrachte. Nach zehn Minuten besann er sich und warnte den Priester:
    »Aber ich sage es gleich: Ich bin Agnostiker.«
    »Wunderbar!«, freute sich Vater Konstantin, der solche Begriffe ebenfalls lange nicht gehört hatte.
     
    Ins Gespräch vertieft verließen sie den Schulhof. Sie passierten den großen Gemüsegarten, wo die zur Ernte beorderten jungen Hünen rauchten, das schiefe Schild Mitino , die Müllkippe mit Parschiwka, der den Schwanz einzog, die knarrende Brücke, auf der der aufgeregte Sanja der dahinschmelzenden Angelique ein Sonett vortrug, das er für sein eigenes ausgab, die Ruine der Rinderfarm, wo die verwegenen Fünftklässler, die bereits Mittag gegessen und sich umgezogen hatten, dem Mann mit dem Euter statt einem Gesicht auflauerten.
    Sie liefen und nahmen den Weg kaum wahr. Nur hin und wieder, wenn Mitja in den mit Gras überwucherten Straßengraben trat, blickte er wie blind um sich und tauchte dann wieder in das Gespräch ein.
    Von der Geschichte hatte er unvermittelt zum Thema Glauben gewechselt, über das er nie mit jemandem sprach. In seiner akademisch gebildeten Familie mit ihrem Kult der Logik und der Wissenschaft war es nicht üblich, ja, sogar unanständig, darüber zu reden.
    »Was haben Adam und Eva mit mir zu tun? Selbst wenn wir mal annehmen, dass sie tatsächlich existiert haben, woran ich nicht glaube«, rief Mitja, womit er die verborgenen Eidechsen und Feldmäuse aufschreckte, »warum soll mein Leben davon abhängen, dass irgendwer einen mystischen Apfel gegessen hat, den es auch nie gegeben hat? Das war doch schließlich nicht ich! Und überhaupt, wie kann man die reale Tragödie der Geschichte der Menschheit mit einem Märchen erklären? Menschen töten andere Menschen, weil der Bär Knochenbein im Wald herumläuft! Das ist absurd? Aber ist der Sündenfall nicht das Gleiche?!«
    Vater Konstantin hörte aufmerksam zu, zeigte aber nicht die geringste Neigung, in den Disput einzusteigen. Mitja musste mit sich selbst streiten, Gegenargumente äußern und sie widerlegen. Schließlich ging ihm die Puste aus, und er wandte sich Vater Konstantin zu, um ihn mit seiner ganzen Erscheinung zu einer Antwort zu bewegen. Der schaute ihn mit klarem, ja heiterem Blick an und sagte:
    »Vielleicht haben Sie recht.«
    Mitja erstarrte mitten auf dem Feld.
     
    Erst bei Sonnenuntergang kehrten sie ins Dorf zurück. Vor dem Laden schwang Jefim, in einem Jackett voller Orden, feierlich die an dem alten Apfelbaum hängende Schaukel mit seiner herzallerliebsten Serafima. Sie jauchzte und kreischte, während sie hoch aufflog.
    »Sie hat heute Geburtstag.« Der alte Mann strahlte, als die beiden erstaunt neben ihm stehenblieben. »Fünfundachtzig. Ein kleines Mädchen!«
    »Kinder«, rief Serafima von oben. »Kommt zu uns, es gibt Apfelkuchen!«

SECHZEHNTES KAPITEL
Sanja
    Am späten Abend küsste sich Angelique an der Gartenpforte lange mit Sanja, der sie nach Hause gebracht hatte. Die schreckliche Brille hatte er abgenommen, damit sie nicht störte, und im schwachen Licht aus den Fenstern, das durch die Büsche drang, sah er ganz passabel aus. Außerdem hatte er ihr gestanden, dass er sie seit der siebten Klasse liebte, und das schmeichelte Angelique und ließ den Kussmarathon bis weit nach Mitternacht andauern.
    Doch als sie am Morgen einen Blick auf ihren blassen Verehrer warf, der sich anscheinend gar nicht von der Stelle gerührt hatte, bekam sie einen Schreck, schlich sich leise durch den Garten, schlüpfte durch ein Loch im Zaun und lief auf Umwegen durch den feuchten Herbstwald zur Schule.
    Jedesmal, wenn ihr Blick auf den vor Verzweiflung vergehenden Sanja fiel, schwankte Angelique zwischen Mitleid und Abscheu. Wenn das Mitleid überwog, lächelte sie gnädig – und Sanja strahlte voller Hoffnung.
    In der dritten Stunde durfte er sich sogar neben sie setzen, und er presste vierzig Minuten lang mit seiner schweißigen Hand die ihre, was die Waagschale endgültig auf die Seite der Abscheu senkte, und als er Angelique zu einem ernsten Gespräch hinter die Schule bat, erklärte sie ihm schonungslos, alles Gestrige sei ein fataler Fehler gewesen.
     
    Abends brachte ihr der Fünftklässler Ilja Sergeitsch, vor Wichtigkeit fast platzend,

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