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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Fünftklässler ab, den die ganze Geschichte bereits langweilte.
    »Na schön. Bring mir auch keine mehr, selbst wenn noch welche kommen.«
    »Und was soll ich damit machen?«
    »Meinetwegen falte Schiffchen draus und lass sie auf der Bitjuga schwimmen.«
    »Ich bin doch kein Baby mehr!« Ilja Sergeitsch war beleidigt. »Schiffchen schwimmen lassen!«
     
    Sanja indessen hatte den stoischen Entschluss gefasst, nicht nach seinen Gefühlen, sondern nach dem Verstand zu leben. Deshalb ging er schnurstracks zur Wohnung des neuen Lehrers, um mit ihm über philosophische Themen zu reden, und vor allem – um nicht zu Angeliques Fenster zu laufen.
    Mitja blätterte mit gerunzelter Stirn in einem Englischlehrbuch. Er und Jewdokija hatten sich den Stundenplan brüderlich geteilt: Er übernahm die geisteswissenschaftlichen Fächer, sie die exakten Disziplinen und den Sport.
    Zu seiner geliebten Geschichte war er noch kein einziges Mal gekommen. Dafür hatte er eine Erörterung schreiben lassen, Bulgakows Flucht nacherzählt – diesmal ohne Sanjas Hilfe – und etwas ihm selbst recht Nebulöses über die indirekte Rede erzählt. Er fühlte sich ein wenig benommen.
    Alles war ganz anders gekommen, als er es sich erträumt hatte, aber abschütteln konnte er das freiwillige Joch nun auch nicht mehr. Das hätte bedeutet, die kleine Jewdokija mit allen schulischen Problemen ganz allein zu lassen.
    Der Sommer, der erst vor einer Woche zu Ende gegangen war, schien weit, weit in die Ferne gerückt, Mitja kam es vor, als sehe er durch ein umgedrehtes Fernglas. In seinem neuen Leben gab es für nichts Zeit außer für seine Lehrerpflichten. Selbst das Dummendorf, nur eine halbe Stunde Fußweg entfernt, war plötzlich unerreichbar wie Kap Horn. Jeden Morgen schwor er sich, Lena zu besuchen. Doch dann fiel es ihm erst spät in der Nacht wieder ein, wenn er todmüde auf den Dachboden kletterte.
    Trotzdem war Mitja ruhig, sogar glücklich. In dieser Woche hatte er kein einziges Mal über seinen Platz in der Welt nachgedacht und darüber, wie er in den Augen anderer wirkte. Seine Gedanken, unfreiwillig an vollkommen abseitige Gegenstände wie die Konjugation unregelmäßiger Verben oder die Aufstellung eines Unterrichtsplans gefesselt, gerieten kaum noch auf diese Bahnen, sie drifteten in andere Richtungen ab, und Mitja erholte sich von sich selbst.
    Nun, da er keine einzige freie Minute hatte, war er zum ersten Mal im Leben vollkommen frei. Und eines Nachts erwachte er davon, dass er im Schlaf lachte. Draußen regten sich flüsternd die Bäume, und mit jedem Windstoß wurde ihr Rauschen dünner und undeutlicher.
     
    »Ich bin gekommen, um Ihre Meinung zu hören«, sagte Sanja mit krächzender Stimme, die man am liebsten geölt hätte wie eine alte Tür. »Zum Sinn des Lebens. Sie haben ja gesagt, dass auch Sie darüber nachdenken.«
    »Ja, früher mal«, entgegnete Mitja fröhlich und schob das Lehrbuch beiseite, dessen er längst überdrüssig geworden war. »Aber ich glaube, darüber zu reden hat keinen Sinn. Entschuldige das Wortspiel.«
    »Worüber soll man dann überhaupt reden?«, rief Sanja pathetisch.
    Mitja fühlte sich mit einem Schlag endgültig erwachsen. Sanjas kategorische Heftigkeit war ihm sehr vertraut. Doch er sah sie nun von außen, wie die Schuluniform, aus der er herausgewachsen war.
    »Fremde Erfahrung hat noch niemandem genützt«, sagte er, die Worte sorgfältig wählend. »Alles, was ich dir erzählen könnte, selbst alles, was du in Büchern lesen kannst, wird dir nicht helfen – im besten Fall. Schlimmstenfalls wird es dich behindern. Diesen Weg muss jeder allein gehen.«
    »Wozu aber dann die Kunst? Die Philosophie, die Religion? Wenn es nicht um den Sinn des Lebens geht, dann ist das alles schäbiger Betrug! Gemeiner Erwachsenenschwindel!«
    »Nein, nein, natürlich geht es um den Sinn. Aber es sind keine fertigen Rezepte.«
    »Was dann?«
    »Vielleicht Orientierungen. Vielleicht aber auch nur Nahrung für deine eigenen Gedanken. Jedenfalls, vergiss alles, was du von anderen erfahren hast. Und mach dich selbst auf den Weg. Anders kommst du nie vom Fleck.«
    »Aber dann kann ich das ja auch an niemanden weitergeben? Wozu dann danach suchen? Nur für mich selbst? Das ist banal!«
    »Aber wieso denn?« Mitja lächelte, weil er wusste, was Sanja antworten würde.
    »Das ist übelster Egoismus!« Sanja kochte vor Wut, sprang auf und warf dabei natürlich den Stuhl um. »Gleich erzählen Sie mir noch, dass das so

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