Dune 02: Der Herr des Wüstenplaneten
vorwärts. Die Menschen standen jetzt noch dichter zusammengedrängt; die Luft war dick von ihrem Atem und dem Geruch von Gewürz.
»Shai-Hulud sei gepriesen!« riefen die Akoluthen. »Der Erhalter und Lebensspender!«
Paul, hoffnungslos eingekeilt in die Masse, fühlte sich wie ein Ertrinkender. Irgendwo begann ein Chor weiblicher Stimmen zu singen, leise und entfernt, wahrscheinlich hinter der in Regenbogenfarben schillernden Tür: »Alia ... Alia ... Alia ...« Der Gesang wurde lauter und lauter, verstummte plötzlich.
Nach kurzer Stille setzten die Frauenstimmen von neuem ein:
»Alia ...
Sie besänftigt den Sturm –
Ihr Blick vernichtet den Feind
Und quält den Ungläubigen.
Von den Türmen Tuonos,
Im Land der Dämmerung und des Wassers,
Siehst du ihren Schatten
Im strahlenden Mittag.
Unsere Fürsprecherin ist sie –
Unsere Beschützerin.
Es zerschmilzt der Feind,
Der Bedrücker entflieht
Vor ihren Augen –
Die alle Geheimnisse kennen.
Sie ist Alia ... Alia ... Alia ...«
Die Stimmen verebbten.
Paul war angeekelt. Was haben wir da losgetreten? fragte er sich. Wohin würde dieser Wahnsinn noch führen? Alia war eine kleine Hexe, aber sie wurde älter. Und er dachte: Älter werden heißt schlechter werden.
Die Atmosphäre kollektiven Wahnsinns, die in diesem Tempel herrschte, war eine Beleidigung des Verstands. Paul hatte ein vages Gefühl des Einswerdens mit all diesen Menschen um sich her, aber die Unterschiede der inneren Haltung des Universums außerhalb des Tempels flutete in sein Bewußtsein. Wie vermessen war der Gedanke, mit diesem bereits entarteten Kult ein Kleidungsstück zu stricken, das allen Menschen paßte!
Paul schauderte es.
Das Universum widersetzte sich jedem Versuch, ihm ein einheitliches Gesicht zu geben. Es ließ sich nicht fassen, entzog sich seinem Zugriff, wenn er es schon zu haben glaubte. Dieses Universum würde sich nie irgendeine Gestalt aufzwingen lassen, die er ihm geben wollte.
Stille breitete sich im Tempel aus.
Alia trat aus der Tür hinter dem schimmernden Regenbogen. Sie trug ein gelbes, grün abgesetztes Priesterinnengewand – gelb für das Sonnenlicht, grün für den Tod, der das Leben schuf. Einen Moment lang dachte Paul erstaunt, Alia sei bloß für ihn hier erschienen, und er starrte sie erwartungsvoll an, doch ihrem Blick und ihrer Haltung war nicht zu entnehmen, ob sie von seiner Anwesenheit wußte oder nicht. Er kannte ihr Ritual und seine Wurzeln, aber noch nie hatte er hier unter den Pilgern gestanden und seine Schwester mit den Augen der einfachen Gläubigen gesehen. Hier, wo sie ihre mysteriösen Riten vollzog, begriff er, daß sie an den Kräften teilhatte, die ihm entgegenstanden.
Akoluthen reichten ihr einen goldenen Kelch.
Alia hob den Kelch.
Paul wußte, was darin war: reine Melange, das subtile Gift, das Sakrament ihres Orakels.
Ihren Blick auf den Kelch konzentriert, fing Alia mit heller, melodischer Stimme den Wechselgesang an:
»Am Anfang waren wir leer.«
»Unwissend waren wir aller Dinge«, antwortete der Chor.
»Wir kannten nicht die Kraft des Heils«, sang Alia.
»Allgegenwärtig in Raum und Zeit«, antwortete der Chor.
»Hier ist die Kraft!« sang Alia und hob den Kelch.
»Sie bringt uns Freude«, sang der Chor.
Und sie bringt uns in Bedrängnis, dachte Paul.
»Sie erweckt die Seele«, sang Alia.
»Sie vertreibt alle Zweifel«, sekundierte der Chor.
»Ohne sie gehen wir unter.«
»In der Kraft überleben wir«, jubelte der Chor.
Alia setzte den Kelch an die Lippen und trank.
Zu seiner Verblüffung fand Paul, daß er seinen Atem anhielt wie der unwissendste Pilger in dieser Menge. Trotz seiner Kenntnisse über die Erfahrung, die Alia in diesen Minuten durchmachte, war er von der mystischen Zurschaustellung gefesselt. Er erinnerte sich, wie dieses feurige Gift den Körper in Besitz nahm, wie alles Zeitgefühl aufhörte und das Bewußtsein zu einem schwebenden Staubteilchen wurde. Er erlebte wieder das Erwachen in Zeitlosigkeit, wo alles möglich war. Er kannte Alias gegenwärtige Erfahrung.
Sie zitterte, sank in die Knie und fiel auf die Seite.
Ein Seufzen ging durch die Menge.
Paul nickte zu sich selbst. Versunken ins Miterleben dieser künstlich erzeugten, trancehaften Vision, hatte er sich einen Moment vom einfältigen Wunderglauben der Pilger mitreißen lassen. Für sie war dies eines der wesentlichen Mysterien ihres Kults, von dem sie sich Offenbarungen erhofften. Tatsächlich ging man in der Vision durch eine
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