Dune 02: Der Herr des Wüstenplaneten
es nie beschieden war, zu sein. Ein unsichtbares Selbst in ihm erinnerte sich der falschen Vergangenheit, deren Last zuweilen die Gegenwart zu überwältigen drohte.
Chani lehnte sich gegen seinen Arm.
Er fühlte seinen Körper durch ihre Berührung: totes Fleisch, getragen von Zeitströmen. Er stank nach Erinnerungen, die die Ewigkeit erblickt hatten. Die Ewigkeit sehen bedeutete aber, ihren Launen ausgesetzt sein, bedrückt von endlosen Dimensionen. Die falsche Unsterblichkeit des Orakels forderte Vergeltung: Vergangenheit und Zukunft wurden gleichzeitig.
Wieder erhob die Vision sich aus ihrer schwarzen Grube und schloß sich ihm an. Sie war seine Augen. Sie bewegte seine Muskeln. Sie führte ihn zum nächsten Moment, zur nächsten Stunde, vielleicht zum nächsten Tag – denn die Unterbrechungen mehrten sich –, bis er das Gefühl hatte, ganz in ihr zu leben.
»Es ist Zeit, daß wir gehen«, sagte Chani. »Der Rat wird schon versammelt sein ...«
»Alia wird mich vertreten.«
»Weiß sie, was zu tun ist?«
»Sie weiß es. Ich habe sie instruiert.«
Alias Tag begann mit einem Morgenappell der Palastwache auf dem Hof unter ihren Privaträumen. Das Stimmengewirr und Durcheinandergerenne, die schneidenden Befehle und die gebellten Antworten rissen sie aus dem Schlaf, und sie trat unlustig ans Fenster, um durch die Gardinen hinunterzuspähen. Nach der Befehlserteilung marschierten mehrere Truppen davon, aber viele Männer blieben auf dem Hof, liefen aufgeregt hin und her und erfüllten die Luft mit ihren Rufen. Die Szene wurde erst verständlich, als einer der Trupps wieder zum Vorschein kam und sie den Gefangenen sah, den die Männer herausführten: Korba, den Hofpriester und Panegyriker.
Sie machte ihre Morgentoilette, die sie hin und wieder unterbrach, um aus dem Fenster zu schauen und die Vorgänge auf dem Hof zu verfolgen. Immer wieder schweifte ihr Blick zu Korba. Sie versuchte, sich den Mann als den rauhen und bärtigen Befehlshaber der dritten Welle in der Schlacht um Arrakeen vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Korba war ein alter Geck geworden, makellos in einer seidenen Robe von exquisitem Schnitt. Sie war vorn offen und enthüllte ein frisch gestärktes und gekräuseltes, mit grünen Gemmen besetztes und mit Stickereien verziertes Hemd. Ein purpurner Gürtel umspannte seine gerundete Mitte, und wenn er sich bewegte, war unter der Robe eine enganliegende gestreifte Hose aus dunkelgrünem und schwarzem Samt zu sehen.
Inzwischen waren ein paar Naibs auf dem Hof erschienen und machten Bemerkungen, die Korba zu erregten Protesten und Beteuerungen seiner Unschuld veranlaßten. Alia beobachtete die Stammesführer der Fremen und versuchte, eine Erinnerung an sie wachzurufen, aber die Gegenwart löschte die Vergangenheit aus. Sie waren alle verweichlichte Hedonisten geworden, Schwelger in Genüssen, die die meisten Menschen sich nicht einmal vorstellen konnten.
Alia bemerkte, daß ihre unbehaglichen Blicke häufig zu dem Eingang wanderten, wo der Große Rat zusammentreten sollte. Wahrscheinlich dachten sie an die wunderbare Sehkraft des blinden Muad'dib, eine unheimliche neue Manifestation geheimnisvoller Kräfte. Sie waren mit dem Brauch aufgewachsen, daß ein Blinder in der Wüste ausgesetzt und sein Wasser Shai-Hulud geopfert wurde. Aber der augenlose Muad'dib sah sie. Auch der riesige Komplex dieses Palastes beunruhigte sie, gab ihnen ein Gefühl von Verwundbarkeit. Zwar hatten die meisten von ihnen längst ihre Höhlen und Zelte aufgegeben und bewohnten geräumige Landhäuser im Grün bewässerter Oasen, aber alles war doch überschaubar geblieben; sie hatten den Kontakt mit der Wüste noch nicht verloren. Dies hier war etwas anderes: es war das Zentrum einer Macht, die kaum in Umrissen auszumachen war.
Als sie sich zurechtgemacht hatte und im Begriff war, in den Versammlungsraum zu gehen, sah sie den Brief, den sie am Vorabend auf dem Tisch liegengelassen hatte: die letzte Botschaft von ihrer Mutter, die ein zurückgezogenes Leben auf Caladan führte.
Alia berührte den Brief. Dieses Papier war in den Händen ihrer Mutter gewesen. Solch ein archaisches Ding, ein Brief – aber persönlich in einer Weise, die von keiner Tonaufzeichnung erreicht wurde.
Die Gedanken an ihre Mutter plagten Alia mit der üblichen inneren Verschwommenheit. Die drogenbedingte Veränderung, die die Psyche der Mutter mit der ihrer Tochter vermischt hatte, zwang sie gelegentlich, an Paul als an einen Sohn zu
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