Dune 02: Der Herr des Wüstenplaneten
denken, den sie geboren hatte. Dieser Einheitskomplex konnte ihr den eigenen Vater als Liebhaber präsentieren. Gespenstische Schatten tanzten in ihrem Kopf, Menschen einer anderen Möglichkeit in einer verfremdeten Realität.
Alia hob den Brief auf und überflog ihn noch einmal, bevor sie hinunterging.
»Du erzeugst ein Paradoxon, das sich einmal als gefährlich erweisen wird«, hatte ihre Mutter geschrieben. »Regierung kann nicht religiös sein und gleichzeitig sich selbst positiv gegenüberstehen. Religiöse Erfahrung bedarf einer Spontaneität, die mit den Gesetzen des Staates kollidieren muß und von ihnen unterdrückt wird. Und ohne Gesetz kannst Du nicht regieren. Am Ende ersetzen Deine Gesetze Moral und Gewissen, selbst die Religion, durch die Du zu regieren glaubst. Ein sinnvolles religiöses Ritual muß Sehnsüchten und Bedürfnissen entspringen; ein strenges moralisches Bewußtsein muß ihm zugrunde liegen. Regierung ist andererseits nicht mehr als Herrschaft über einen Gruppenorganismus, und als solche lädt sie zu Zweifeln und Kritik ein. Sie muß sich damit abfinden, von breiten Schichten in Frage gestellt zu werden. Darum sehe ich den Tag kommen, wo leeres Zeremoniell den Platz des lebendigen Glaubens einnehmen wird und ein erstarrter Symbolismus die Moral ablöst.«
Alia legte den Brief seufzend aus der Hand und ging die Treppe hinunter. Unten in der Halle roch es nach Gewürzkaffee. Vier Wächterinnen in grünen Gewändern verbeugten sich und folgten ihr. Ein Page rannte los, um im Versammlungsraum ihre Ankunft zu melden. Als er die schummrige, fensterlose Halle verließ, strömte blendendes Tageslicht durch die offene Tür, und für einen Moment sah Alia den von Palastwachen umringten Korba in der Sonne stehen, sah die Gesichter, diesen den Fremen eigenen Ausdruck von unerbittlicher Entschlossenheit, mit der sie töteten, ohne auch nur einen Anflug von Schuld zu empfinden.
Ich bin anders, dachte Alia. An dem Namen der Atreides klebt schon zuviel Blut. Nicht auch noch dies!
»Wo ist Stilgar?« fragte sie.
»Schon im Versammlungssaal«, sagte eine ihrer Amazonen.
Alia umging den Hof; der Umweg führte sie durch die leeren Korridore der angrenzenden Gebäude und erreichte den Versammlungsraum von der Rückseite. Stilgar hatte einen der kleineren Säle für die Verhandlung gewählt. Gegenüber von den hohen Fenstern mit ihren orangefarbenen Vorhängen gab es eine kleine Galerie mit einer Reihe gepolsterter Sitze, auf denen die Naibs als Beobachter Platz genommen hatten. Das übrige Mobiliar des Saales war ausgeräumt und durch Utensilien ersetzt worden, die dem Raum eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Gerichtssaal gaben. An einer Schmalseite, neben der Tür, durch die sie hereingekommen war, hatte man eine teppichbelegte Estrade errichtet, auf der ein schwerer Tisch und drei Stühle standen. Mitglieder der Palastwache hatten vor der Galeriebrüstung Aufstellung genommen. Stilgar bewegte sich langsam ihre Reihe entlang und gab mit halblauter Stimme Instruktionen.
Alia erstieg die Estrade und setzte sich auf den mittleren Stuhl hinter den Tisch, was zu einem Gemurmel unter den anwesenden Naibs führte. Ihr gegenüber und ungefähr zwanzig Schritte entfernt war ein ledernes Sitzkissen plaziert.
Korba wurde hereingeführt und mußte darauf Platz nehmen. Trotz seiner prächtigen Kleider machte er jetzt den Eindruck eines schläfrigen alten Mannes, der fröstelnd und zusammengekauert auf seinem Kissen hockte, eingewickelt in seine Robe. Zwei Wächter stellten sich hinter ihm auf.
Stilgar hatte seine Instruktionen beendet und ging zur Estrade. Erst jetzt schien er zu sehen, daß Alia anwesend war.
»Wo ist Muad'dib?« fragte er.
»Mein Bruder hat mich beauftragt, an seiner Stelle hier den Vorsitz zu übernehmen«, sagte Alia.
Die Naibs auf der Zuhörergalerie begannen lautstark zu protestieren.
»Ruhe!« rief Alia. Die Proteste verebbten, und als es still war, sagte sie: »Ist es nicht der Brauch, daß eine Ehrwürdige Mutter den Vorsitz führt, wenn über Leben oder Tod entschieden wird?«
Einer der Fremen rief: »Wir sind hier nicht bei den Bene Gesserit!«
Alia entgegnete kalt, er habe die Freiheit, den Saal zu verlassen, wenn er persönliche Vorbehalte habe. Daraufhin wurde es wieder still, aber Alia erntete zornige Blicke von den Stammesführern. Sie merkte sich die Namen für die anschließende Sitzung des Obersten Rats – Hobar, Rajifiri, Tasmin, Saajid, Umbu, Legg ... Jeder Name
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