Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
floß aus Dörrs Körper heraus und verschwand in Vlads gierig ausgestreckten Händen. Sein Leben? War Leben … sichtbar ?
Jan stemmte sich hoch, drehte sich mühsam herum und kroch auf Händen und Knien ein Stück weit auf Vlad und sein Opfer zu; immer noch von nichts anderem beseelt als dem verzweifelten Wunsch, dem Mann irgendwie zu helfen – oder präziser: Vlad von seinem entsetzlichen Tun abzubringen. Er durfte kein weiteres Leben zerstören. Mit jedem Leben, das er nahm, wurde er stärker; mit jedem Toten, den er auf seinem Weg zurückließ, würde es schwerer werden, ihn zu vernichten.
Jans Blick suchte den Boden ab. Die Spiegelscherbe, mit der er Vlad attackiert hatte, war in mehrere kleine Splitter zerbrochen. Keiner davon war noch groß genug, um eine praktikableWaffe abzugeben. Und Vlad würde ihn niemals bis ans Waschbecken kommen lassen, damit er sich eine neue Waffe besorgen konnte.
Trotzdem kroch er weiter. Er konnte Dörr nicht mehr retten. Der Mann war bereits so gut wie tot. Was Vlad ihm wegnahm, war nichts, was ihn noch retten konnte. Es ging längst nicht mehr darum, ein Leben zu bewahren. Es ging nur darum, daß Nosferatu es nicht bekam. Dörr war nur ein Sterblicher; einer von fünf oder sechs Milliarden Sterblichen, die auf dieser Welt lebten und sich einbildeten, irgendeine Rolle zu spielen. Er mußte Vlad aufhalten, das war alles, was zählte.
Jan schleppte sich weiter, brachte irgendwie das Kunststück fertig, die Waschbecken (und viel wichtiger: Die Spiegelscherben auf dem Boden darunter!) zu erreichen, und streckte die Hand nach einem der größten Stücke aus. Nosferatu fuhr mit einem Zischen wie eine angreifende Schlange herum und trat ihm mit aller Wucht auf die Hand. Etwas knirschte. Die Spiegelscherbe zerbrach, vielleicht auch der ein oder andere Knochen in seiner Hand, und Jan grunzte vor Schmerz. Zerbrochenes Glas schnitt so tief in seine Handfläche, daß das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll.
Vlad drehte den Fuß auf Jans Hand herum. Diesmal war Jan sicher, daß das Knirschen von seinen Fingerknochen stammte. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Vlad lachte, machte einen halben Schritt zur Seite und trat ihm dann so gewaltsam ins Gesicht, daß er auf die Seite fiel und erneut für zwei oder drei Augenblicke das Bewußtsein verlor.
Jan war ziemlich erstaunt, überhaupt wieder zu sich zu kommen. Sein rechter Arm war nur noch ein einziger Schmerz, der bis ins Schulterblatt hinauf pochte und pulsierte. Blut quoll aus seinem zerschnittenen Handballen, und sein Gesicht fühlte sich schon jetzt so geschwollen und unförmig an, wie es vermutlich in spätestens einer Stunde aussehen würde. Wiesolebte er noch? Nosferatu hatte nicht nur allen Grund, sondern auch jede Gelegenheit gehabt, ihn umzubringen!
Jan hob mühsam den Kopf und erblickte die Antwort auf seine eigene Frage: Er lebte noch, weil der Dunkle im Moment Besseres zu tun hatte, als einem halbtoten Mann den Rest zu geben. Er amüsierte sich lieber mit einem echten Toten.
Vlad hatte Dörr vom Boden hochgerissen und schleifte ihn ohne die geringste Anstrengung in eine der Toiletten. Jan mußte hilflos zusehen, wie Vlad den Körper des Toten so herumdrehte, daß der vor dem Toilettenbecken kniete, und anschließend den Kopf seines Opfers in die Kloschüssel drückte. Er verkniff sich nicht einmal den billigen Gag, die Spülung zu betätigen, sondern tat es sogar mit sichtbarem Vergnügen, bevor er sich wieder zu ihm umdrehte und sagte:
»So, und jetzt erklär das mal deinem Freund, diesem Polizisten.«
Jan war nicht sicher, ob er erneut für eine oder zwei Sekunden das Bewußtsein verlor oder ob Vlad einfach von einem Augenblick auf den anderen verschwand. Als er das nächste Mal blinzelte, war der Dunkle nicht mehr da. Nur Dörr kniete noch vor der Toilette. Die Spülung lief immer noch. Und Dr. Dörr war noch immer tot. Es war kein Alptraum gewesen.
Jan stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, sammelte das bißchen Kraft, das er noch in seinem zerschlagenen Körper fand, und kam irgendwie auf die Füße. Torkelnd näherte er sich der Toilette. Er wußte, daß er nicht genug Kraft haben würde, um den Toten aus dieser unwürdigen Lage zu befreien – und so ganz nebenbei auch nicht genug Zeit. Vlad hatte mit seiner hämischen Bemerkung leider nur zu recht gehabt: Es würde für ihn nicht schwer, sondern schlichtweg unmöglich sein, Dörrs Tod zu erklären, selbst wenn man ihn nicht mit dem Kopf
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