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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sich auch nur zu bewegen. Seine angeknacksten Rippen protestierten lautstark gegen die grobe Behandlung, und jeder Atemzug war ein dünner, aber tief gehender Stich in seine Brust, und auch wenn seine Knie jetzt nicht mehr nachzugeben drohten, so zitterten sie doch bei jedem Schritt unter seinem Gewicht. Aber er mußte hier raus. Wenn er blieb, würde etwas passieren, das schlimmer war als der Tod.
    Jan entdeckte den Aufzug fast am anderen Ende des Flures, sparte sich die Kraft, die ein Seufzer gekostet hätte, lieber für einen weiteren Schritt auf und tastete sich mühsam an der Wand entlang darauf zu. Zwei Schritte weit, dann wich er wieder bis in die Mitte des Korridors zurück. Es tat ungemein wohl, sein Gewicht an der weißgestrichenen Wand abzustützen, aber unter der Erleichterung schlich sich eine heimtückische Müdigkeit heran, die nur darauf wartete, in einem unaufmerksamen Moment über ihn herzufallen.
    Er erreichte das Wachzimmer, sah die Schwester, ganz wie er erwartet hatte, mit dem Rücken zur Glasscheibe dastehen und lautstark und aufgeregt telefonieren, wobei sie unentwegt mit der freien Hand gestikulierte. Jan ging weiter. Der Flur war nicht nur subjektiv, sondern auch wirklich sehr lang – an beiden Seiten mußten mindestens zehn wenn nicht mehrTüren in die entsprechende Anzahl von Zimmern hineinführen. Aber entweder war keines davon belegt, oder er hatte gerade die Mittagsruhe oder etwas Ähnliches erwischt. Auf seinem ganzen Weg zum Aufzug hin begegnete ihm kein Mensch.
    Jan war sehr froh darüber. Er war nicht sicher, daß er die Kraft gehabt hätte, eine weitere Auseinandersetzung durchzustehen. Niemand hier würde es wagen, ihn wirklich gewaltsam und gegen seinen Willen aufzuhalten, das war ihm klar. Aber allein das Sprechen fiel ihm schwer. Allein der Entschluß , sich dem Willen eines anderen zu widersetzen, war vielleicht schon mehr, als er im Moment bewältigen konnte.
    Er ließ sich schwer gegen die Tür des Aufzugs sinken, widerstand im buchstäblich allerletzten Moment der Versuchung, die Augen zu schließen und nur kurz, eine einzige, süße Sekunde lang der Müdigkeit nachzugeben, und drückte den silbernen Knopf, der die Kabine rief.
    Nichts geschah. Der grüne Leuchtpfeil, der über der Tür angebracht war, blieb dunkel.
    Jan drückte den Knopf noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Er sah fast verzweifelt in die Runde und stöhnte nun doch, als er das kleine, in Augenhöhe neben der Tür angebrachte Schildchen las: ›Nur für Bettentransport‹.
    Er hatte einen jener Aufzüge erwischt, die nur mit einem Schlüssel zu betätigen waren.
    Zweifellos besaß die Schwester einen solchen Schlüssel. Aber sie befand sich fast am anderen Ende des Korridors und für Jan somit praktisch auf der Rückseite des Mondes. Und ebenso zweifellos, wie sie diesen Schlüssel hatte, würde sie sich auch weigern, ihn auszuhändigen.
    Jan drehte sich herum, ließ sich mit beiden Schultern und dem Hinterkopf gegen die Tür sinken und registrierte mit einem Gefühl dumpfen Entsetzens, daß sich der Besucheraufzugam anderen Ende des Flurs befand. Nachdem er die Station verlassen hatte, war er direkt daran vorbeigegangen, ohne es auch nur zu bemerken.
    Hinter ihm erscholl ein helles »Pling«, und das verchromte Metall der Lifttüren begann ganz sachte in seinem Rücken zu vibrieren. Jan wandte sich wieder um, machte einen wackeligen Schritt zurück und sah voller Erstaunen, wie die grüne Leuchtanzeige über der Tür aufleuchtete. Nicht einmal eine halbe Minute später hörte er die Kabine ankommen. Die Tür faltete sich ineinander und verschwand in der Wand, um den Blick auf eine erstaunlich geräumige, vollständig verchromte Kabine freizugeben, und Dr. Mertens trat heraus, stemmte die Fäuste in die Hüften und maß Jan mit einem langen, taxierenden Blick.
    »Würden Sie mir verraten, was das wird?«
    »Ich gehe«, antwortete Jan. »Ich muß … weg.«
    »Ach? Müssen Sie?« fragte Mertens. Plötzlich schien ihm seine Haltung selbst albern vorzukommen. Er nahm die Hände herunter, wich wieder einen halben Schritt in die Kabine zurück, so daß er rein zufällig die Lichtschranke unterbrach und somit die Türen daran hinderte, sich zu schließen, und maß Jan mit einem neuen, auf eine ganz andere Art nachdenklichen Blick von Kopf bis Fuß.
    »Was ist los?« fragte er, plötzlich sehr leise, sehr ernst, besorgt. In seiner Stimme war ein alarmierender Ton, den Jan nicht richtig zu deuten vermochte. Es

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