Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
jahrelang mit so viel Mühe und so wenig Erfolg angekämpft hatte.
Der Tod seines Vaters war sinnlos gewesen. Er war noch nicht einmal fünfzig, als sich die heimtückische Krankheit das erste Mal bemerkbar machte, und nur wenig darüber, als er starb, ein ausgezehrtes Wrack, das mit Gewalt am Leben erhalten wurde und am Schluß um den Tod bettelte. Wie Jan selbst war auch er alles andere als ein Heiliger gewesen. Er hatte dankbar alles genommen, was das Leben ihm anbot, und er war dabei nicht zimperlich gewesen – aber er hatte, verdammt noch mal, nie etwas getan, um einen solchen Tod zu verdienen!
Vielleicht war es einfach das: Katrin hatte die Wahrheit ungefähr so weit verfehlt wie die letzte Voyager-Sonde den PlanetenMerkur, als sie ihm vorhielt, daß er sich selbst die Schuld am Tode seines Vaters gab. Das hatte er nie getan und tat es nicht. Aber sie hatte die Tür zu dem Verlies in seinem Inneren, in dem er die Gespenster eingesperrt hatte, sperrangelweit aufgestoßen, als sie die Dunklen erwähnte.
So hatte sein Vater sie genannt: die Dunklen. Die Vorboten des Todes, die aus ihrem Schattenreich gekommen waren, um ihn zu holen. Und das war es, was ihm damals, am Sterbebett seines Vaters, angst gemacht hatte und es noch bis zum heutigen Tag tat.
Die Dunklen. Sie hatten seinen Vater geholt, und nun waren sie gekommen, um ihn zu holen. Vielleicht war er ihnen zu nahe gekommen, damals, als er bei seinem Vater saß und dessen Hand hielt, die sich so rauh wie heißes Sandpapier und so zerbrechlich wie Glas anfühlte. Vielleicht hatten sie seine Spur aufgenommen, und nun hatten sie ihn gefunden und würden auch ihn holen.
Jan war sich vollkommen darüber im klaren, wie unsinnig dieser Gedanke war. Sein Vater war in den letzten Monaten nicht nur körperlich, sondern auch geistig immer schneller verfallen, und was ihm die Krankheit nicht angetan hatte, das hatten die Medikamente erledigt, mit denen sie ihn vollgestopft hatten. ›Um ihm wenigstens die schlimmsten Qualen zu ersparen‹ – was natürlich viel einfacher und vor allem humaner gewesen war, als die Nadeln aus seinen Venen zu ziehen und diese verdammten Maschinen abzustellen. Das allein hätte ihm nach Jans Meinung nicht nur unvorstellbares Leiden erspart, sondern auch einen menschenwürdigen Tod gewährt. Vermutlich hatte er die letzten drei oder vier Monate in einer Art ununterbrochenem Delirium verbracht, und deshalb halluziniert. Und ebenso selbstverständlich hatte er, Jan, sich daran erinnert, als er selbst glaubte, dem Tod nahe zu sein. Er hatte die gleichen Gestalten gesehen, die sein Vater beschriebenhatte. Er hatte in Gedanken sogar die gleichen Worte benutzt! Daran war weder etwas Übernatürliches, noch etwas besonders Rätselhaftes. Alles war eigentlich ganz simpel zu erklären. Warum also hatte er immer noch das Gefühl, vor Angst halb wahnsinnig zu werden?
Weil du in einer Ausnahmesituation bist, dachte er. Weil du dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen bist und weil es nicht recht ist, daß man mit zweiunddreißig bereits dem Sensenmann gegenübersteht. Weil man in diesem Alter einfach nicht auf so etwas vorbereitet ist.
Das war eine Erklärung.
Die andere war vielleicht der Anblick der schattenhaften Gestalt, die hinter ihm stand und ihn beobachtete.
Im ersten Moment empfand er … gar nichts. Weder Überraschung noch Schrecken, geschweige denn Furcht. Er stand einfach nur da, mit gebeugten Schultern und weit nach vorne gelehnt, beide Hände auf den Waschbeckenrand gestützt und den Blick starr in die verspiegelten Türen des billigen Kunststoffschränkchens gerichtet, das er selbst dort aufgehängt hatte; mit wenig Lust und noch weniger Geschick, so daß es nicht ganz in der Waage hing und sich nicht nur alles Runde, was man hineinlegte, zwangsläufig in der rechten unteren Ecke versammelte, sondern auch die Türen immer wieder aufzugehen versuchten. Die rechte der drei Türen unternahm gerade wieder einmal einen solchen Versuch. Sie war um zwei oder drei Zentimeter aufgeschwungen, so daß Jan sich nicht direkt darin sehen konnte, sondern nur einen Teil seiner rechten Schulter, die viel zu kleine Badewanne mit dem Duschvorhang, den er ebenfalls selbst angebracht hatte, und eben den Schatten, der reglos in der Badewanne stand und ihn anstarrte.
Jan blinzelte.
Der Schatten blieb.
Es war ganz eindeutig nicht sein Schatten, dazu war er zu schlank, zu groß, und er stand auch an der falschen Stelle.
Jan blinzelte
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