Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
verbergen vermochte. »Ich habe mit Dr. Mertens darüber gesprochen, weißt du? Er sagt dasselbe. Es wäre fast erstaunlich, wenn es nicht früher oder später passiert wäre.«
»Ihr habt über mich geredet?« fragte Jan übellaunig, begriff im gleichen Augenblick aber selbst, daß das Blödsinn war.
»Selbstverständlich«, antwortete Katrin ungerührt. »Wäre es dir lieber, wenn es mir vollkommen gleichgültig wäre, was mit dir geschieht?«
Sie sog an ihrer Zigarette und machte eine fast herrische Bewegung mit der freien Hand, als Jan etwas sagen wollte, und Jan wurde klar, daß sie sich das, was sie jetzt sagen würde, lange und sorgsam zurechtgelegt und nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatte, damit anzufangen. Und daß er nicht die geringste Chance hatte, sie zu unterbrechen. »Du machst dir Vorwürfe, weil dein Vater gestorben ist und weil du nichts für ihn tun konntest.«
»Unsinn«, widersprach Jan – ohne eine Spur von Überzeugungskraft.
»Du hast es dir nie wirklich verziehen, daß er praktisch in deinen Armen gestorben ist und daß du nichts anderes tun konntest, als dazusitzen und zuzusehen, wie er stirbt. Du glaubst, es wäre deine Schuld.«
»Mein Vater hatte Krebs«, sagte Jan. »Keine Macht der Welt hätte ihn retten können. Es war ein Wunder, daß er überhaupt so lange durchgehalten hat.«
»Das weißt du«, sagte Katrin. Sie tippte sich mit den Zeigefingern gegen die Schläfe. »Hier. Aber tief in dir drinnen gibst du dir die Schuld. Vielleicht nicht an seinem Tod, aber an seinem langen Leiden. So einfach ist das.«
Jan schüttelte müde den Kopf. Katrin hatte entschieden zu viele »Fragen-Sie-Frau-Sommer«-Seiten in einschlägigen Illustrierten gelesen. Was nichts daran änderte, daß sie der Wahrheit damit weit näher kam, als ihm lieb war.
Und Katrin wäre auch nicht Katrin gewesen, hätte sie sein zaghaftes Kopfschütteln nicht einfach ignoriert und weitergesprochen. Offensichtlich fand sie an ihrer eigenen Idee so viel Gefallen, daß sie sich nicht durch eine so simple Kopfbewegung den Mund verbieten ließ.
»Ist dir denn nicht klar, daß du mir haarklein die gleiche Geschichte erzählst wie die, die dir dein Vater erzählt hat, und zwar fast wörtlich? Dunkle Gestalten, die an deinem Bett stehen und dich holen wollen!«
Formal stimmte das, ging zugleich aber soweit an der Wahrheit vorbei, wie es nur möglich war. Die Worte stimmten überein, aber das war auch schon alles.
Er stand auf und war selbst überrascht, wie wackelig er auf den Beinen war. Die Zeit, die er auf der Couch gelegen hatte, hatte ihn nicht gestärkt, sondern schien ihn eher müde gemacht zu haben. Vielleicht, dachte er, war alles, was ihm in Wirklichkeit fehlte, zwölf oder vierzehn Stunden Schlaf.
»Wohin?« fragte Katrin.
Es lag Jan auf der Zunge, zu sagen, daß sie das nichts anginge, aber er beherrschte sich. Eine solche Antwort würde ganz bestimmt nicht dazu beitragen, die Situation zu entspannen. Außerdem kannte er sich selbst gut genug. Er neigte dazu, seine Launen an anderen auszulassen. Statt Katrin also anzufahren, wonach ihm zumute war, deutete er nur mit einer knappen Kopfbewegung zum Bad und schlurfte an ihr vorbei. Er mußte weder auf die Toilette, noch hatte er irgend etwas anderes im Bad zu tun. Er wollte einfach nur für einen Moment seine Ruhe.
»Ich habe einen Termin bei Dr. Petri für dich gemacht«, riefKatrin ihm nach. Jan hatte nicht die geringste Ahnung, wer Dr. Petri war, stellte aber auch keine entsprechende Frage. Er wollte im Moment einfach nicht mit ihr reden.
Vielleicht, weil er dann möglicherweise doch zugeben müßte, daß sie recht hatte.
Er hatte den Tod seines Vaters nie wirklich verwunden. Er hatte ihn akzeptiert, und er hatte ihn verstandesmäßig und auch – wenigstens bis zu einem gewissen Punkt – emotional verarbeitet, aber verwunden hatte er ihn bis heute nicht.
Er war so … sinnlos.
Jan betrat das winzige, fensterlose Bad, schlug die Tür hinter sich zu und schloß ab – soweit er sich erinnern konnte, zum ersten Mal, seit Katrin zu ihm gezogen war. Dann machte er den einen Schritt zum Waschbecken hinüber, stützte sich schwer mit den Händen auf das kalte Porzellan und sah müde in den Spiegel.
Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, bot keinen erfreulicheren Anblick als am Morgen – und wie auch? Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, war dem Tod so nahe gewesen wie noch niemals zuvor. Hinzu kam die Erinnerung, gegen die er
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