Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
Schaufensterscheibe einer Bäckerei geendet.
Das Geräusch, mit dem er gegen das Glas prallte, war für einen Moment lauter als das wütende Schrillen der Straßenbahnund das Kreischen der eisernen Räder, unter denen noch immer Funkenschauer heraussprühten. Jan taumelte zurück, fand irgendwie sein Gleichgewicht wieder und schüttelte kurz mit einer abgehackten Bewegung den Kopf; nicht einmal, weil das irgendeinen Sinn machte, sondern einfach, weil er das Gefühl hatte, daß man das in einer Situation wie dieser tat.
Gleich wie – es funktionierte. Die Wirklichkeit schnappte mit einem fast körperlich fühlbaren Ruck in ihre normalen Grenzen zurück, und Jan fand sich ziemlich benommen und mit dröhnendem Schädel und einer heftig pochenden Schulter vor dem Schaufenster der Bäckerei stehend wieder. Aus dem Inneren des Geschäfts starrte ihn ein halbes Dutzend schreckensbleicher Gesichter an, und hinter ihm hatte die Straßenbahn endlich aufgehört, Funken zu produzieren und schrilles Gebimmel von sich zu geben. Sie wurde allerdings immer noch langsamer.
»Ist Ihnen etwas passiert?«
Jan starrte eine halbe Sekunde lang und noch immer benommen das verzerrte Spiegelbild seines eigenen Gesichts in der Schaufensterscheibe an, dann wurde ihm klar, daß er sich diese Frage keineswegs selbst gestellt hatte. Unsicher drehte er sich herum und starrte eine weitere halbe Sekunde lang ins Leere, bevor er endlich auf die Idee kam, den Blick zu senken. Vor ihm stand eine sehr schlanke, sehr kleine junge Frau – eigentlich noch fast ein Mädchen – mit der sonderbarsten Frisur, die er je gesehen hatte, blassem Teint und einer weder der Jahres- noch der Tageszeit angepaßten Sonnenbrille.
»Nein«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Ich bin völlig in …« Etwas hinter seiner Stirn rastete spürbar ein. »Das waren Sie«, sagte er. »Sie haben mir das Leben gerettet.«
Die Frau mit der abenteuerlichen Frisur sah sich übertrieben nach allen Seiten um und hob die Schultern.
»Außer mir ist niemand hier, oder?« fragte sie lächelnd.
Sie hatte recht. Sie waren nicht allein auf dem Marktplatz, aber der nächste Passant war mit Sicherheit mehr als zwanzig Meter entfernt.
»Danke«, murmelte er verstört. »Ich –«
»Danken Sie mir später«, unterbrach sie ihn. »Im Moment sollten wir lieber von hier verschwinden. Wie ist es – krieg’ ich einen Kaffee spendiert? Für eine Lebensrettung ist das nicht zu viel verlangt, oder?«
Jan sah sich rasch um. Eine der Gestalten in der Bäckerei hatte sich von ihrem Platz hinter der Theke gelöst und strebte mit raschen Schritten dem Ausgang entgegen; vermutlich, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen (und sich, so ganz nebenbei, davon zu überzeugen, daß die Schaufensterscheibe den Zusammenstoß ebenso unbeschadet überstanden hatte wie er), und auch die Straßenbahn wurde immer noch langsamer. Jan war nicht sicher, ob sie anhalten würde, aber er war auch ganz und gar nicht scharf darauf, sich mit einem aufgebrachten Straßenbahnfahrer herumzustreiten. Also nickte er, ergriff seine Retterin kurzerhand am Arm und deutete mit der anderen Hand über den Platz.
»Mein Stammlokal«, sagte er. »Ich spendiere Ihnen sogar einen Cappucino. Der ist zwar teurer, aber mein Leben ist auch eine Menge wert.«
Sie gingen los, als sich die Tür der Bäckerei öffnete. Diesmal gab es kein unheimliches Gefühl, das ihn gewarnt oder gar aufgehalten hätte. Ganz im Gegenteil: Jan hatte es plötzlich sehr eilig, den Platz zu überqueren.
»Können wir draußen sitzen?«
Seine Retterin deutete auf das halbe Dutzend Tische und Stühle, das hinter einem schlecht imitierten Jägerzaun vor dem Restaurant stand. Wahrscheinlich hatte vor drei Wochen das letzte Mal jemand darauf gesessen. Es war nicht mehr dieJahreszeit, um draußen zu essen, und speziell im Moment war es viel zu kalt dazu.
Trotzdem nickte er. »Wenn Sie das möchten …«
»Ich sitze gern draußen.«
Jan sagte nichts mehr. Es war kühl, aber nicht so kalt, daß er es nicht eine halbe oder dreiviertel Stunde hier draußen aushalten würde. Außerdem würde er von hier Katrin sehen, wenn sie auftauchte und ihren mit Knöllchen gespickten Wagen ansteuerte.
Sie nahmen Platz. Es begann jetzt immer rascher zu dämmern, so daß er fast Mühe hatte, sein Gegenüber genau zu erkennen, obwohl sie kaum mehr als anderthalb Meter von ihm entfernt saß.
»Ich möchte mich noch einmal bei Ihnen bedanken«, begann Jan, ein wenig
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