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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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weiß, wie mein Auto aussieht.«
    »Und das da?« Jan deutete auf die obere Reihe kaum daumennagelgroßer Bildchen, auf denen der Dunkle zu erkennen war. Unheimlich: Er hatte der Gestalt schon einen Namen gegeben. Vielleicht hätte er es besser nicht getan. Gib einem Ding einen Namen, und du erweckst es zum Leben.
    Katrin zuckte mit den Schultern. »Irgend jemand, der dagestanden hat«, sagte sie.
    »Und der nicht zu fotografieren ist?«
    Eine Sekunde lang sah sie ihn nur irritiert an, dann lachte sie: Kurz, hart und völlig ohne Humor. »Spinnst du jetzt vollkommen? Jemand, der nicht zu fotografieren ist! Ich bitte dich! Gleich wirst du mir erzählen, daß das da ein Gespenst ist!«
    »Ich erzähle dir gar nichts«, erwiderte Jan fast feindselig. »Ich zeige dir nur etwas, und ich frage dich, was es ist.«
    »Woher soll ich das wissen? Du bist hier der Fotograf, oder?« Katrin legte die Lupe aus der Hand und sah auffordernd zur Tür. Sie hätte nur die Hand auszustrecken und den Riegel zurückzuschiebenbrauchen, aber Jan war klar, daß das seine Aufgabe war. Er hatte sie eingeschlossen, und es oblag ihm, sie wieder gehen zu lassen. Er schob den Riegel zurück, und Katrin öffnete wortlos die Tür und ging.
     
    Der Schmerz holte ihn in dieser Nacht ein. Sie hatten den Rest des Abends in beinahe vollkommenem, eisigem Schweigen verbracht, aber irgendwann kurz nach dem Abendessen, das Katrin und Vera gemeinsam zubereitet hatten und das er unter normalen Umständen als ausgesprochen köstlich gewürdigt hätte, war die Stimmung plötzlich umgekippt. Katrin hatte weiter nur wenig mit ihm gesprochen und war auch seinen Blicken ausgewichen, aber er hatte doch gespürt, daß ihre Feindseligkeit zuerst Trotz und dann einer schwer zu definierenden Art von schlechtem Gewissen gewichen war.
    Sie waren früh zu Bett gegangen, und Jan war nicht einmal überrascht gewesen, als Katrin nach einer Weile wortlos ihr Nachthemd abstreifte und unter seine Decke kroch. Sie hatten miteinander geschlafen, obwohl ihm gar nicht danach zumute gewesen war. Er hatte sich fast überwinden müssen, um es zu tun. Aber Katrin schien aus irgendeinem Grunde der Meinung zu sein, daß sie ihm etwas schuldig war, und er wollte ihr Versöhnungsangebot nicht ausschlagen.
    Der Sex war wie das Essen zuvor: Wären die Umstände anders gewesen, hätte er ihn als Geschenk gewürdigt und auch entsprechend genossen. So aber brachte er ihn wie eine Pflichtübung hinter sich, und natürlich blieb es Katrin nicht verborgen, und natürlich wußte er, daß sie es wußte. Diese simple, aber in ihrer Wirkung verheerende Kette von Erkenntnissen trug auch nicht dazu bei, seine Stimmung zu heben.
    Er schlief ein, wachte aber schon nach wenigen Minuten wieder auf, geplagt von den Fetzen eines begonnenen Alptraums,aus dem er hochgeschreckt war, und einem tauben Gefühl im linken Arm. Schuld daran war jedoch nicht sein Herz, wie er im ersten Moment annahm, sondern Katrin, die mit dem Kopf auf seinem linken Oberarm eingeschlafen war.
    Er verlagerte sein Körpergewicht, schob die Schulter unter ihrem Kopf hervor und brachte dabei irgendwie das Kunststück fertig, sie nicht aufzuwecken. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund und einen noch viel schlechteren auf der Seele. Der Alptraum, an den er sich zu erinnern geglaubt hatte, war nicht wirklich ein Alptraum gewesen. Er mußte an Peter denken, und plötzlich, buchstäblich von einem Lidzucken zum anderen, waren der Schmerz und die Verzweiflung da, die er bisher fast vermißt hatte, die völlig sinnlose Weigerung, die Wirklichkeit anzuerkennen, und der ebenso sinnlose, aber reinigende Zorn auf das Schicksal, das so grausam und so vollkommen grundlos zugeschlagen hatte.
    Er versuchte, sich Peters Bild vor Augen zu rufen, und mußte sich fast entsetzt eingestehen, daß er es nicht konnte. Er sah den letzten Abend, an dem Peter hiergewesen war, so deutlich wie auf einem gestochen scharfen Fernsehbild vor sich: Die Art, in der er ihm gegenüber im Sessel gesessen hatte, seine Kleidung, seine Gestik, der Klang seiner Stimme, alles war da, nur sein Gesicht fehlte. Er konnte nicht vergessen haben, wie sein Bruder aussah. Aber etwas in ihm weigerte sich, sich an sein Gesicht zu erinnern.
    Er stand auf, trat ans Fenster und zog vorsichtig die Gardine zurück. Die Plastikröllchen machten ein rasselndes Geräusch, und Jan sah erschrocken auf Katrin hinab. Sie bewegte sich unruhig im Schlaf, wälzte sich auf die andere Seite, wachte

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