Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
aber nicht auf, und Jan wandte sich wieder zum Fenster um.
    Es gab dort draußen nichts zu sehen, was er nicht gekannt hätte: Die Straße lag vollkommen ruhig da. Eine Handvoll Autos parkte auf beiden Seiten, nur unzureichend beleuchtet, sodaß einige von ihnen ebensogut bucklige Geschöpfe aus einer fremden Welt, voller Monstrositäten und bleicher Kreaturen, sein konnten. Wie alle Städte mußte auch Neuss sparen, und irgend jemand in der Stadtverwaltung war auf die grandiose Idee gekommen, zu diesem Zweck nur noch jede zweite Straßenlaterne einzuschalten, und das selbstverständlich in täglichem Wechsel. Jan hatte sich über diesen Schildbürgerstreich laut lustig gemacht (und sich mehr als einmal geärgert), aber nun, als er dastand und auf die schlafend daliegende Straße hinabsah, erfüllte ihn der Anblick mit einer sonderbaren Mischung aus Faszination und Furcht. Die Welt war nicht mehr aufgeteilt in Hell und Dunkel, sondern in Bereiche vollkommener Schwärze, die an ihren Rändern langsam in Grau und dann in heller werdendes Gelb übergingen, bis sie auf der anderen Seite wieder verblaßten. Diese Bereiche verschieden abgestufter Dämmerung waren weitaus größer als die Reviere, die völlige Dunkelheit oder strahlendes Licht beanspruchten. Und er fragte sich, ob das, was er nun sah, vielleicht ein Spiegelbild der Wirklichkeit sein mochte: Ob Hell und Dunkel, Leben und Tod nicht nur zwei Extreme in einem Kosmos waren, der zum allergrößten Teil aus Zwielicht bestand, in dem alles Schatten sein konnte, Schatten aber ebensogut auch alles sein konnten. Was, wenn Peter nicht wirklich tot war und sein Geist zwar nicht mehr im Licht wandelte, die völlige Schwärze aber noch lange nicht erreicht hatte, sondern verzweifelt durch dieses Zwielicht irrte, vielleicht um Hilfe schrie, darauf wartete, daß er ihn rettete.
    Jan fragte sich, was mit ihm los war. Das war genau die Art von Jenseitsglauben, über den er sich normalerweise laut und so ausdauernd lustig machte, daß er seiner Umwelt damit auf die Nerven ging. Plötzlich aber schien dieser Gedanke von einer Wahrhaftigkeit erfüllt zu sein, der er nichts entgegenzusetzen hatte.
    So, dachte er, mußte es sein, wenn man plötzlich von Gott erleuchtet wurde. Er hatte Menschen niemals verstanden, die ihr Leben von einem Tag auf den anderen änderten, weil sie Jesus Christus, der Jungfrau Maria oder meinetwegen auch dem Zauberer von Oz begegnet wären. Mit einem Mal verstand er sie. Die Vorstellung eines Reiches der Dämmerung, das zwischen Tag und Nacht angesiedelt war, erschien ihm nach wie vor grotesk, aber gleichzeitig wußte er einfach, daß es existierte, irgendwie, irgendwann. Vielleicht nur in seiner Einbildung – welchen Unterschied machte das schon? Letztendlich bestand die ganze Welt nur aus Eindrücken, die seine Sinne aus dem herausfilterten, was um ihn herum war, und von denen er nicht wußte, was sie mit dem wirklichen Draußen zu tun hatten. Woraus bestand ein Leben, wenn nicht aus Erinnerungen und jenen magischen drei Sekunden, von denen die Wissenschaft behauptete, daß sie die Gegenwart seien?
    Ein Geräusch unterbrach seine Gedanken. Jan glaubte, Katrin wäre nun doch wach geworden, und er drehte schuldbewußt den Kopf, aber sie lag noch immer so da wie vorhin, im Schlaf zusammengerollt und auf der Seite. Er war froh, sie nicht geweckt zu haben.
    Um es auch weiter nicht zu tun, hob er vorsichtig seine Kleider auf und verließ das Zimmer. Er war müde, aber nur rein körperlich. Sein Innerstes befand sich in Aufruhr, und er wußte, daß er in dieser Nacht so oder so keine Ruhe mehr finden würde – und es auch nicht wollte. Die Erinnerung an Peter und der bohrende Schmerz über seinen Verlust, den zu akzeptieren er sich immer noch weigerte, durchdrang jeden seiner Gedanken und würde ihn auch im Schlaf heimsuchen. Vielleicht konnte er später noch ein wenig ausruhen, wenn er so müde war, daß selbst die Träume keine Gewalt mehr über ihn hatten.
    Er ging ins Wohnzimmer hinüber, schloß lautlos die Tür hinter sich und zog sich an. Die Stille fiel ihm auf. Es war noch nicht einmal Mitternacht, doch von draußen drang nicht der mindeste Laut herein, und selbst das Licht, das in grauen Streifen durch die nur halb geschlossenen Jalousien sickerte, wirkte sonderbar gedämpft, als hätte sich das Reich der Dämmerung draußen nun durch die Fensterscheiben gearbeitet und nähme allmählich Besitz von der Wohnung.
    Jan schüttelte den Kopf über

Weitere Kostenlose Bücher