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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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diesen sonderbaren Gedanken. Er wollte darüber lächeln, aber es gelang ihm nicht recht. Diese Idee war so närrisch wie die, die ihm gerade drüben am Fenster gekommen war, aber daß er überhaupt solche Dinge dachte, alarmierte ihn. Er war bis vor ganz kurzer Zeit ein Mensch gewesen, der stolz darauf war, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen. Katrin und er hatten sich mehr als einmal – auf nicht immer ganz scherzhafte Art – gekabbelt, weil sie ihm vorwarf, ein vollkommen unromantischer Mensch zu sein. Jemand, der mit einer hingeworfenen Bemerkung die schönste Stimmung zunichte machen konnte und für den Emotionen etwas waren, worüber man nicht redete und die man – wenn man sie denn hatte – besser nicht zugab.
    Aber er war auch noch niemals so unmittelbar mit dem Tod konfrontiert worden, hatte niemals in so kurzer Zeit so viele Verluste hinnehmen müssen. Vielleicht würde er später, wenn die Wunden vernarbt waren und nicht mehr ganz so schmerzten, sogar einsehen, daß an dieser Erfahrung etwas Positives war. Er war an seine Grenzen gestoßen, und dahinter erwartete ihn nicht das Nichts, sondern ein anderer, ihm selbst völlig unbekannter Jan, einer, von dem er nicht einmal wußte, ob er ihn kennenlernen wollte.
    Er ging in die Küche, kochte sich eine Tasse Instantkaffee und gab genug Zucker und Milch hinein, um den unangenehmenEigengeschmack des Getränks zu erschlagen. Die Wirkung setzte fast sofort ein. Nicht nur seine Seele, sondern auch sein Körper schien heute extrem auf alles zu reagieren, denn er konnte regelrecht fühlen, wie sich das Koffein auf seinen Kreislauf auswirkte und ihn mit der Illusion von Stärke erfüllte.
    Damit hatte sich die Frage, ob er doch noch einmal zu Bett gehen und versuchen sollte, einzuschlafen, zumindest für die nächste Stunde, erledigt.
    Er ging wieder ins Wohnzimmer, nahm die TV-Fernbedienung in die Hand und legte sie wieder weg, ohne den Apparat eingeschaltet zu haben. So sonderbar, ja fast schon unheimlich ihm die Stille auch vorkam, die von seiner Umgebung Besitz ergriffen hatte, schien sie doch gleichzeitig etwas fast Heiliges zu haben, das er nicht stören wollte. Aber er konnte auch nicht einfach dasitzen und darauf warten, daß er müde wurde, und schon gar nicht wollte er dasitzen und darauf warten, daß die Erinnerungen zurückkamen.
    Sein Arbeitszimmer war im Moment Sperrgebiet – Vera schlief darin, und er hatte nicht den Nerv, ein Buch zu nehmen und zu lesen. So tat er das einzige, was ihm noch übrigblieb: Er ging in seine improvisierte Dunkelkammer und suchte noch einmal, sehr gründlich und vollkommen sinnlos, nach den verschwundenen Negativen.
    Sie blieben verschwunden. Das Blatt mit den Kontaktabzügen lag noch da, wo Katrin es liegengelassen hatte, beinahe, wie um ihn zu verspotten, und er verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, sich die Bilder noch einmal unter der Lupe anzusehen. Das Ergebnis unterschied sich in nichts von dem des Vorabends. Sie waren so gut oder schlecht, wie Kontaktabzüge nun einmal waren, und der unheimliche Schatten, den er auf einigen davon mitfotografiert hatte, blieb ein verschwommener, nicht ganz klar zu erkennender Schatten.Deutlich der Umriß eines Menschen, aber eben nur der Umriß. Und vielleicht nicht einmal das. Es war, als hätte dort jemand – etwas? – gestanden, das sich eben nicht fotografieren ließ, basta.
    So wie Vera.
    Zum allererstenmal fragte sich Jan wirklich, wer das Mädchen mit den sonderbaren Augen und der verrückten Frisur eigentlich war. Ob sie tatsächlich rein zufällig immer im richtigen Moment zur Stelle war und ob sie tatsächlich nicht mehr war als ein ausgeflipptes Ding, das in der pubertären Trotzphase steckengeblieben war, welche die meisten Jungen und Mädchen irgendwann einmal durchmachen.
    War er wirklich verrückt?
    Hatte er sich das alles wirklich nur eingebildet?
    Und waren die unscharfen Bilder, die er von Vera in der Nacht im Wohnzimmer gemacht hatte, wirklich nur ein Materialfehler, eine Eins-zu-eine-Million-Chance auf eine falsche Distanzeinstellung, fünfmal hintereinander?
    Nun, es gab eine Möglichkeit, zumindest das herauszufinden.
    Er trat an den Schrank, in dem er die Kameras aufbewahrte, die er zur Zeit nicht im Einsatz hatte, wählte die mit dem lichtstärksten Objektiv und legte einen Film mit einer Empfindlichkeit ein, welche die des menschlichen Auges fast um das Doppelte übertraf. Dann ging er ins Wohnzimmer, löschte das Licht

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