Dunkel ueber Longmont
Flecken. Trat sie Unterkommandant Dreys ihr Durchhaltevermögen ab, wäre sie danach geschwächt, anfälliger für Seuchen und Krankheiten. Sie wäre nie mehr in der Lage, ein Kind auszutragen, geschweige denn, es zu gebären.
»Nur seine Gaben des Durchhaltevermögens haben ihn so lange am Leben erhalten«, hakte Chemoise grübelnd nach.
»Ein wenig mehr dann überlebt er vielleicht.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Eine Gabe zu empfangen, selbst eine Gabe des Durchhaltevermögens, bedeutet einen Schock für den Organismus. Das würde ich nicht riskieren.
Wir können nur abwarten und sehen, ob er kräftiger wird…«
Chemoise nickte. Sie kniete neben Dreys, wischte das Blut, das in seinem Mundwinkeln Bläschen bildete, mit einem Zipfel ihres grauen Kleides fort. Dreys atmete schwer und füllte seine Lungen mit Luft, als wäre jeder Atemzug sein letzter.
Iome staunte. »Atmet er schon lange so?«
Der Arzt schüttelte kaum merklich den Kopf, damit Chemoise seine Antwort nicht mitbekam. Dreys lag im Sterben.
So hielten sie mehrere Minuten lang über ihn Wache, während Dreys immer heftiger keuchte, weil er keine Luft mehr holen konnte, bis er endlich die Augen aufriß, als erwache er aus einem quälenden Traum.
»Wo?« stieß er hervor, wobei er Chemoise ins Gesicht starrte.
»Wo das Buch ist?« fragte einer der Schloßgardisten. »Wir haben es gefunden und dem König übergeben.«
Iome wußte nicht, wovon der Gardist sprach. Dann schoß gurgelnd Blut aus Dreys’ Mund, er bäumte sich auf, streckte die Hände nach Chemoise aus und ergriff die ihre.
Sein Atem setzte endgültig aus.
Chemoise umklammerte den Kopf des Unterkommandanten, beugte sich tief über ihn und flüsterte leidenschaftlich: »Ich wollte kommen. Ich wollte dich heute morgen treffen…«
Daraufhin brach sie in Tränen aus. Die Gardisten und der Arzt traten zurück und ließen ihr einige Augenblicke Zeit, um ein paar letzte liebevolle Worte zu sprechen, für den Fall, daß die Seele den toten Körper noch nicht verlassen hatte. Als sie fertig war, erhob sie sich.
Nur Unteroffizier Clewes stand noch immer hinter ihr. Er zog die Streitaxt, salutierte und berührte mit dem von den Klingen gebildeten Kreuz die Spitze seiner Eisenkappe. Er erwies nicht Iome die Ehre, sondern Chemoise.
Anschließend steckte er seine Axt zurück und wiederholte leise seine Worte von vorhin: »Er hat nach Euch gerufen, als er fiel, Chemoise.«
Chemoise kam ein erschreckender Gedanke. Sie hob den Kopf und blickte Unteroffizier Clewes an. »Das ist ein kleines Wunder. Die meisten Männer würden, nachdem sie so verletzt wurden, nur noch einmal keuchen und sich dann selbst benässen.«
Sie benutzte die Wahrheit wie eine offene Hand und wehrte sich damit gegen den Mann, der ihr die schlimme Nachricht überbracht hatte. Dann fügte sie freundlicher hinzu: »Trotzdem danke, Unteroffizier Clewes, für einen gutgemeinten Einfall, einer Dame den Schmerz zu lindern.«
Der Unteroffizier blinzelte zweimal, drehte sich um und steuerte auf das Wachhaus der Gardisten zu.
Iome legte Chemoise die Hand auf die Schulter. »Wir werden ein paar Tücher holen und ihn für das Begräbnis waschen.«
Chemoise starrte sie mit aufgerissenen Augen an, als sei ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen. »Nein!« rief sie. »Jemand anderes soll ihn waschen. Es ist egal. Er ist – seine Seele ist nicht mehr dort drin. Kommt, ich weiß, wo sie ist!«
Chemoise rannte zum Königstor los.
Sie führte Iome und ihre Days den Hügel hinunter durch die Märkte, dann vorbei am Außentor zum Stadtgraben. Die Felder jenseits des Stadtgrabens füllten sich bereits mit Händlern, die zum Jahrmarkt gekommen waren. Helle kardinalrote, smaragdgrüne und safrangelbe Seidenzelte standen auf dem Südhügel, oben in der Nähe des Waldrandes, wo Tausende von Maultieren und Pferden aus den Karawanen angepflockt waren.
Hinter dem Stadtgraben bog Chemoise links ab und folgte einem überwachsenen Pfad rings um den Graben zu einem niedrigen Wäldchen auf der Ostseite der Burg. Man hatte vom Wye aus einen Kanal gezogen, um den Graben zu füllen.
Dieses Wäldchen stand zwischen Kanal und Fluß.
Von dieser kleinen Erhebung aus konnte man flußaufwärts die vier verbliebenen Bögen der alten Steinbrücke sehen, die einen wie getriebenes Silber glänzenden Fluß überspannte.
Hinter der alten Brücke erhob sich die neue eine, deren Steinmetzarbeiten in weit besserem Zustand waren. Jedoch fehlten ihr die
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