Dunkel ueber Longmont
mit denen sie Verleihgeschäfte betrieben. Würde ein Boykott durchgesetzt, gingen Hunderte wohlhabender Familien bankrott. Und gerade diese wohlhabenden Familien zahlten schließlich die Steuern für den Unterhalt der Ritter des Lords Sylvarresta.
Tatsächlich hatte Lord Sylvarresta bei vielen Geschäften selbst die Hand im Spiel. Nicht einmal er konnte sich einen Boykott leisten.
Iomes Blut fühlte sich an, als kochte es. Sie versuchte, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Ihr Vater würde gezwungen sein, den Spion freizulassen und eine Schlichtung zu bewirken.
Aber gefallen mußte ihr das nicht.
Denn auf lange Sicht, das wußte Iome sehr wohl, konnte sich ihre Familie solche Schlichtungen nicht leisten: Es war nur eine Frage der Zeit, bis Raj Ahten, der Wolflord aus Indhopal, Krieg gegen die vereinigten Königreiche von Rofehavan führen würde. Obwohl zur Zeit noch Waren aus Indhopal durch Wüsten und über Berge hierher gelangten, würde der Handel nächstes Jahr – oder spätestens im Jahr darauf – aufhören.
Warum dann den Handel nicht sofort einstellen? fragte sich Iome. Ihr Vater konnte die von den ausländischen Händlern herbeigeschafften Waren beschlagnahmen und auf diese Weise den Krieg heraufbeschwören, den er zu vermeiden gehofft hatte.
Nur wußte sie, daß er es nicht tun würde. Lord Jas Laren Sylvarresta würde keinen Krieg beginnen. Dafür war er zu anständig.
Arme Chemoise! Ihr Verlobter war dem Tode nahe und würde nicht gerächt werden.
Das Mädchen hatte niemanden. Chemoises Mutter war jung gestorben. Ihr Vater, ein unabhängiger Ritter, war auf einem Ritterzug nach Aven vor sechs Jahren gefangengenommen worden.
»Danke für die Neuigkeiten«, wandte sich Iome an Unteroffizier Clewes. »Ich werde die Angelegenheit mit meinem Vater besprechen.«
Sie eilte zu den Soldaten. Unterkommandant Dreys lag auf einem Strohsack im grünen Gras. Ein elfenbeinfarbenes Laken bedeckte ihn fast bis zum Hals. Es sah aus, als hätte man aus einem Krug Blut über das Laken gegossen, und aus Dreys’
Mundwinkel quoll es schäumend hervor. Sein bleiches Gesicht war schweißgebadet.
Unteroffizier Clewes hatte recht gehabt. Diesen Anblick hätte sich Iome ersparen sollen. All das Blut, der Gestank aufgeschlitzter Eingeweide, der nahe Tod das alles erfüllte sie mit Ekel.
Ein paar Kinder aus dem Schloß waren früh auf den Beinen und herbeigelaufen, um das Schauspiel zu betrachten. Sie schauten zu Iome auf, Schock und Schmerz in den Augen, so als hofften sie, den ganzen tragischen Vorfall mit einem Lächeln irgendwie wieder ungeschehen machen zu können.
Iome trat zu einem kleinen Mädchen von neun Jahren, Jenessee, und legte einen Arm um das Kind. »Bitte, schaff die Kinder von hier fort.«
Zitternd drückte Jenessee Iome kurz an sich, dann tat sie, wie ihr aufgetragen.
Der Arzt beugte sich über Dreys, ohne sich jedoch zu eiligem Handeln gedrängt zu fühlen. Er sah sich den Soldaten nur an.
Als er Iome und ihren fragenden Blick bemerkte, schüttelte er lediglich den Kopf. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun.
»Wo steckt der Kräutersammler Binnesman?« fragte Iome, denn der Zauberer war diesem Arzt in jeder Hinsicht überlegen.
»Er ist hinausgegangen zu den Wiesen, um Pfefferblatt zu sammeln. Vor heute abend ist er nicht zurück.«
Iome schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihr Meisterarzt hatte sich einen schrecklichen Moment ausgesucht, um Kräuter für das Vertreiben von Spinnen aus dem Schloß zu sammeln.
Doch sie hätte es wissen müssen. Die Nächte wurden zunehmend kälter, und sie selbst hatte sich gestern bei Binnesman über die Spinnen beschwert, die sich in ihren Gemächern vor der Kälte verkrochen.
»Ich fürchte, ich kann nichts tun«, gestand der Arzt. »Ich wage nicht, ihn nochmals zu transportieren, dafür blutet er zu stark. Und die Wunden kann ich nicht vernähen, noch weniger darf ich sie jedoch offen lassen.«
»Ich könnte ihm eine Gabe überlassen«, schlug Chemoise leise vor. »Ich könnte ihm mein Durchhaltevermögen abgeben.« Es war ein Angebot aus reiner Liebe. Als solches hätte Iome es gerne gewürdigt.
»Und wenn, würde er das begrüßen?« wollte der Arzt wissen. »Angenommen, Ihr sterbt im nächsten Winter am Fieber, dann würde er den Tausch bereuen.«
Es stimmte. Chemoise war ein nettes Mädchen, aber nichts deutete darauf hin, daß sie mehr Durchhaltevermögen besaß als irgend jemand sonst. Im Winter erkältete sie sich und sie bekam leicht blaue
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