Dunkel ueber Longmont
die Gedanken ranken langsam bewegten, ihn packten, so wie eine Wurzel vielleicht einen Stein umschließt. Er spürte ihre massive Kraft.
Die Bäume ergriffen ihn, drangen in jeden Teil seines Verstandes vor. Erinnerungen und Ängste aus der Kindheit blitzten vor Gaborns innerem Auge auf ungewollte Bruchstücke aus Träumen und Erwachsenenphantasien. Jede Hoffnung und Tat, jedes Verlangen.
Dann schließlich begannen die tastenden Ranken sich ebenso langsam wieder zurückzuziehen.
»Hegt keinen Groll gegen mich«, flüsterte Gaborn den Bäumen zu. »Eure Feinde sind auch meine Feinde. Laßt mich sicher passieren, damit ich sie besiege.«
Viele lange Herzschläge später schien die Schwere, die ihn umgab, ein wenig nachzulassen, und Gaborn ließ seine Gedanken schweifen und fing an zu träumen, auch wenn er dank seines Durchhaltevermögens keinen Schlaf brauchte.
Er dachte über den Grund nach, der ihn nach Norden geführt hatte, seinen Wunsch, Iome Sylvarresta aufzusuchen und um ihre Hand anzuhalten.
Im letzten Jahr war er, einer verrückten Eingebung folgend, heimlich zur Sommerjagd nach Heredon gekommen, um sie in Augenschein zu nehmen. Sein Vater reiste jedes Jahr zum Hostenfest, der allherbstlichen Feier jenes großen Tages vor gut sechzehnhundert Jahren, als Heredon Sylvarresta hier eine Greifermagierin aufgespießt und die Ungeheuer aus dem Wald vertrieben hatte. Jetzt ritten die Lords von Heredon jeden September durch den Wald, jagten Rieseneber und übten ebenjene Fertigkeiten mit der Lanze, die zum Sieg über die Greifer geführt hatten.
Gaborn war also in seines Vaters Gefolge zur Jagd gekommen, als sei er ein einfacher Knappe. Die Soldaten seines Vaters wußten natürlich alle, daß er unter ihnen war, doch keiner wagte es, seinen Namen offen auszusprechen oder seine Tarnung auffliegen zu lassen.
Er hatte seine Rolle als Knappe durchaus gut gespielt, hatte den Soldaten beim Anlegen ihrer Rüstungen für den Lanzenkampf zu Pferd oder für die anderen Turnierspiele geholfen und nachts in Sylvarrestas Ställen geschlafen, wo er sich um die Pferde und die Ausrüstung während der einwöchigen Jagd gekümmert hatte. Aber er hatte auch während des Festes, das das Ende des Hostenfestes einläutete, im Großen Saal bei Tisch sitzen dürfen, wenn auch als einfacher Knappe nur am hinteren Ende, weit entfernt von den Königen, Adligen und Rittern. Dort hatte er offenen Mundes gestaunt, als habe er noch nie in Gegenwart eines fremden Königs gespeist.
Alles nur, um Iome besser von weitem betrachten zu können, ihre dunkel glühenden Augen, ihr Haar, ihre makellos blasse Haut. Sein Vater halte erzählt, ihr Antlitz sei wunderschön, und die Berichte von Geschichten über Dinge, die sie im Laufe der Jahre gesagt hatte, hatte bei Gaborn das sichere Gefühl hinterlassen, daß sie auch im Herzen genauso liebenswert war.
Nichts jedoch hatte ihn so recht auf ihr fürsorgliches Wesen vorbereitet und auf die Zuneigung, die sie im Volk besaß.
Er war in Etikette sehr wohl unterrichtet worden, während jenes Abendessens jedoch lernte er nicht wenig über nördliche Manieren. In Mystarria war es Brauch, seine Hände vor dem Festmahl in einer Schale kalten Wassers zu waschen, hier im Norden wusch man sich beide Hände und das Gesicht in dampfend heißem Wasser. Während man sich im Süden die Hände trocknete, indem man sie sich an seinem Hemd abwischte, wurden hier im Norden weiche Tücher bereitgelegt, die anschließend über die Knie gebreitet wurden, wo sie dazu dienten, sich das Fett abzuwischen oder sich zu schneuzen.
Im Süden wurden bei Festessen kleine, stumpfe Messer und winzige Gabeln bereitgelegt, so daß niemand die Bestecke, wenn ein Kampf ausbrach, als Waffe benutzen konnte. Hier im Norden jedoch speiste man mit seinem eigenen Besteck.
Der auffälligste Unterschied in den Gebräuchen betraf die Hunde. Im Süden warf man seine Knochen stets über die rechte Schulter, um die Hunde zu füttern. Doch hier, im Großen Saal, blieben alle Hunde draußen, so daß die abgenagten Knochen sich auf den Tellern häuften – in einem äußerst scheußlichen und barbarischen Haufen –, bis die Kinder, die servierten, sie entfernten.
Und noch etwas fiel Gaborn auf. Er hatte es zuerst für einen Brauch des Nordens gehalten, erkannte dagegen bald, daß es eine von Iomes Eigenarten war: In allen Reichen, die Gaborn kannte, war es Dienern bei Tisch nicht erlaubt, zu essen, bevor der König und seine Gäste ihr Festmahl
Weitere Kostenlose Bücher