Dunkel ueber Longmont
großer Kunst – daher war es nur natürlich, wenn seine schöpferischen Kräfte die Menschen in seiner Umgebung beeinflußten, ob er dies beabsichtigte oder nicht.
Er beugte sich vor und fühlte mit schmutzigen Händen an Dewynnes Hals den Puls. Sein Gesicht wirkte ernster und besorgter, als Iome es je gesehen hatte.
»Verdammt soll dieser nutzlose Annektor sein«, murmelte Binnesman leise und suchte tastend nach etwas in seinem erdbefleckten Gewand.
»Was gibt es denn?« hauchte Iome, die es nicht wagte, so laut zu sprechen, daß die anderen es hörten.
»Hyde benutzt eine Scorrel-Version von Gesängen, die den Menschen zuviel entzieht – in der Hoffnung, ich kriege sie schon wieder hin. Dewynne würde keine Stunde überleben, wenn ich nicht hier wäre, und das weiß er!«
Binnesman war ein freundlicher, mitfühlender Mann. Jene Art Mensch, die Mitleid mit noch nicht flügge gewordenen Spatzen hatte, wenn sie aus dem Nest gefallen waren, oder eine Grasschlange gesund pflegte, nachdem sie von einem Ochsenkarren angefahren worden war. Er betrachtete Dewynne aus seinen himmelblauen Augen unter buschigen Brauen hervor.
»Könnt Ihr sie retten?« fragte Iome.
»Vielleicht, vielleicht. Aber ich bezweifle, ob ich sie alle retten kann«, meinte er und deutete mit dem Kopf auf die anderen Übereigner, die auf ihren Feldbetten lagen und von denen einige nach Abtreten einer Gabe um ihr Leben kämpften. »Ich wünschte, Euer Vater hätte den Annektor aus der Weymooth-Schule vom letzten Sommer angeheuert.«
Iome verstand wenig von den verschiedenen Schulen für Annektoren.
Die
miteinander
wetteifernden
Weltanschauungen und Meister konnten recht laut werden, wenn es darum ging, die Überlegenheit ihrer Methoden zu preisen. Und nur jemand, der in ihrer Kunst gut bewandert war, konnte wirklich beurteilen, was an einem bestimmten Tag das beste war. Einige Meister-Annektoren taten sich bei der Übertragung bestimmter Gaben hervor. Hyde war ein ausgezeichneter Mann für die Übernahme von Gaben des Gehörs und des Geruchssinns Gaben, die in einem waldreichen Königreich als äußerst wertvoll erachtet wurden.
Doch seine Arbeit bei den Hauptgaben – insbesondere bei der Übernahme von Durchhaltevermögen und Stoffwechsel – fiel im Vergleich dazu ein wenig ab. Wenigstens vergeudete er im Vergleich zu manch anderen Annektoren kein Vermögen an Blutmetall, um Forschungen an Hunden oder Pferden zu betreiben.
Endlich fand Binnesman etwas in seiner Tasche. Er zog ein frisches Kampferblatt hervor, zerdrückte es zwischen den Fingern und klebte Dewynne die beiden Hälften jeweils unter ein Nasenloch. Der Schweiß auf ihrer Oberlippe hielt das Blatt an seinem Platz.
Aus derselben Tasche zog er Lavendelblüten hervor, mehrere braune Samenkörner und andere Kräuter, verteilte sie auf Dewynnes verschwitztem Körper und legte ein paar unter ihre Lippen. Ein erstaunliches Bild. Der alte Zauberer hatte nur zwei Taschen, beide reichlich gefüllt mit Kräutern, dennoch machte er sich nicht die Mühe, in diese Taschen hineinzusehen, sondern schien die Blätter und Blüten durch Tasten zu erkennen.
Iome blickte zu einem anderen Feldbett hinüber. Der Metzgerlehrling, ein kräftiger Junge namens Orrin, lag dort, bereit, seinem Lord eine Gabe der Muskelkraft abzutreten.
Sein Anblick, so voller Mut und Liebe und jugendlicher Kraft, brach ihr fast das Herz. Wenn er jetzt eine Gabe abtrat, würde er sich womöglich für den Rest seines Lebens nicht mehr von diesem Feldbett erheben können. War es nicht ungerecht, ihm das Leben zu nehmen, wo es doch kaum begonnen hatte?
Mit seinen siebzehn Jahren war der Junge nicht älter als Iome. Er hatte keine größeren Gefahren zu befürchten als sie.
Eroberte Raj Ahten Heredon, hatte er vermutlich sogar ein besseres Schicksal vor sich, überlegte sie. Wenn ihr Vater getötet wurde, würde der Junge seine Gabe der Muskelkraft zurückerhalten. Da er danach nicht mehr imstande wäre, eine andere Gabe abzutreten, war er danach frei, in Frieden seinem Handwerk nachzugehen. Was dagegen stand Iome bevor, wenn Raj Ahten das Haus Sylvarresta besiegte? Folter? Der Tod?
Nein, der Junge des Metzgers wußte, was er tat, redete Iome sich ein. Er trifft eine weise Wahl, vielleicht die beste, die er kann.
Binnesman murmelte: »So wenig Zeit«, begann, Dewynne mit Heilerde einzuschmieren und berührte ihre Lippen damit.
Die Frau begann zu keuchen, als sei jeder Atemzug eine große Anstrengung, und Binnesman
Weitere Kostenlose Bücher