Dunkel ueber Longmont
wehte seine Worte fort.
Schockiert blickte Iome in das Gesicht ihres Vaters, sah, daß er blaß und erschüttert war, geschlagen, verzweifelt.
Die Stimme meines Vaters klingt so trocken und zerbrechlich wie verwehte Asche, dachte Iome. Er ist ein Nichts vor Raj Ahten. Wir alle sind ein Nichts.
Das hätte sie nicht für möglich gehalten.
Raj Ahten beugte sich im Sattel vor, eine kaum merkliche Bewegung. Aus dieser Entfernung war sein Gesicht in ihrem Blickfeld nicht größer als ein funkelndes Sandkorn am Strand.
Sie bildete sich ein, daß er wunderschön war. Er wirkte jung und freundlich. Seine Rüstung trug er mit größerer Selbstverständlichkeit als andere Männer ihre Kleider, und Iome betrachtete ihn staunend. Gerüchten zufolge besaß er Gaben der Muskelkraft von tausend Männern. Hätte er nicht befürchten müssen, sich die Knochen zu brechen, hätte er die Mauern hinaufspringen und einen Mann in seiner Rüstung wie einen Pfirsich zerteilen können.
Im Kampf war er nahezu unbesiegbar. Mit seinen Gaben an Geisteskraft – Hunderte von Weisen und Generälen hatten diese an ihn abgetreten – konnte ihn kein Schwertkämpfer überraschen. Seine Gaben des Stoffwechsels erlaubten ihm, den Innenhof zu überqueren und zwischen verblüfften Gardisten hindurchzuschleichen wie ein unaufhaltsamer, kaum zu erkennender Schatten. Und da er genügend Gaben des Durchhaltevermögens besaß, hielt er fast jedem Hieb im Kampf stand.
All seinen Absichten und Zielen zum Trotz war Raj Ahten nicht einmal mehr ein Mensch. Er war zu einer Naturgewalt geworden.
Eine, die entschlossen war, sich die Welt zu unterwerfen. Er brauchte keine Armee, die ihn unterstützte, keine Kraftelefanten oder zottigen Frowth-Riesen, um die Palasttore niederzureißen. Keine Flammenweber, die die Dächer der Stadt in Brand steckten.
Das alles waren kleine Schrecken, Scheinmanöver. Den Zecken ähnlich, die das Fell eines Riesen befielen.
»Wir können nicht kämpfen«, flüsterte ihr Vater. »Nein, wir können nicht kämpfen.«
Neben ihr keuchte Gaborn unregelmäßig. Er rückte so nahe an sie heran, daß Iome seine Wärme neben ihrem Gesicht spürte.
Sie fühlte sich losgelöst von ihrem Körper, während sie zusah, wie sich unten die Geschehnisse entwickelten.
Menschen rannten in den Innenhof, versuchten sich in die Nähe des neuen Lords zu drängen, ihres Lords, der sie alle vernichten würde.
Iome hatte Raj Ahten gefürchtet wie den Tod, aber auch sie mußte feststellen, daß sie ihn willkommen hieß. Die Macht seiner Stimmgewalt zwang sie dazu.
Prinz Gaborn Val Orden flüsterte: »Euer Volk hat nicht den Willen, Widerstand zu leisten. Mein Beileid aus dem Hause Sylvarresta – Eurem Vater und Euch selbst – für den Verlust Eures Königreichs.«
»Danke«, sagte Iome mit schwacher, abwesender Stimme.
Gaborn wandte sich an König Sylvarresta. »Mein Lord, kann ich irgend etwas tun?« Gaborn sah Iome an. Vielleicht hatte er die Hoffnung, sie von hier fortzuschaffen. Ihr Vater, noch immer erschüttert, drehte sich zu dem Prinzen um. »Tun? Ihr seid noch ein Knabe. Was könntet Ihr denn tun?«
Iomes Gedanken rasten. Sie fragte sich, ob Gaborn ihr bei der Flucht helfen konnte. Aber nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Sicher wußte Raj Ahten, daß sie sich in der Burg befand. Die Königsfamilie wurde beobachtet. Wenn Gaborn versuchte, mit ihr zu fliehen, würde Raj Ahten sie gewiß zur Strecke bringen. Er konnte bestenfalls sich selbst retten. Raj Ahten wußte nicht, daß der Prinz sich auf diesem Gelände befand.
Offenbar war König Sylvarresta zu dem gleichen Schluß gelangt. »Wenn Ihr es schafft, aus der Burg herauszukommen, überbringt Eurem Vater einen Gruß von mir. Sagt ihm, ich bedauere, daß wir nicht mehr zusammen jagen werden.
Vielleicht kann er mein Volk rächen.«
Ihr Vater griff unter seinen Brustharnisch und zog einen Lederbeutel hervor, der ein kleines Buch enthielt. »Einer meiner Männer wurde bei dem Versuch, mir dies zu bringen, ermordet. Das Buch enthält Schriften des Emirs von Tuulistan.
Größtenteils beschäftigt es sich mit philosophischen Betrachtungen und Poesie – es enthält aber auch Berichte über Raj Ahtens Schlachten. Ich glaube, der Emir wollte, daß ich etwas daraus lerne, aber ich habe noch nicht herausgefunden, was. Werdet Ihr dafür sorgen, daß Euer Vater es bekommt?«
Gaborn nahm den Lederbeutel entgegen und steckte ihn ein.
»Und jetzt, Prinz Orden, solltet Ihr besser
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