Dunkel ueber Longmont
aufbrechen, bevor Raj Ahten erfährt, daß Ihr hier seid. In Anbetracht des gegenwärtigen Zustandes meiner ergebenen Untertanen wird es nicht lange dauern, bis dies geschieht.«
»Dann verabschiede ich mich jetzt, zu meinem Bedauern.«
Gaborn verbeugte sich vor dem König.
Zu Iomes Überraschung trat er entschlossen vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Erstaunt stellte sie fest, wie heftig ihr Herz auf seine Berührung reagierte. Gaborn sah sie leidenschaftlich an und sagte leise, mit Nachdruck in der Stimme: »Bleibt tapfer. Raj Ahten benutzt die Menschen. Er vernichtet sie nicht. Ich bin Euer Beschützer. Ich werde zurückkommen und Euch holen.«
Schwungvoll machte er kehrt, eilte zur Treppe und lief dabei so leise, daß sie seine Füße nicht über den Stein scharren hörte.
Wären ihr rasendes Herz und die Wärme auf ihrer Wange, wo er sie geküßt hatte, nicht gewesen, hätte sie fast geglaubt, er sei nur eine Einbildung.
Kommandant Ault schloß sich Gaborn an und folgte ihm hinunter in den Innenhof.
Wie will er fliehen, fragte sie sich, solange Raj Ahtens Wachen die Stadt beobachten?
Sie blickte hinunter auf seinen sich entfernenden Rücken, auf seinen blauen, flatternden Umhang, während Gaborn sich einen Weg durch das Gedränge aus Blinden, Tauben, Idioten und anderen verkrüppelten Übereignern des Hauses Sylvarresta bahnte. Er war nicht groß. Vielleicht gelang es einem Jungen, aus der Burg zu fliehen, ohne daß man ihm Beachtung schenkte.
Wie seltsam, überlegte sie, zu glauben, daß ich ihn liebe. Fast wagte sie zu hoffen, daß sie tatsächlich eines Tages heiraten würden.
Aber natürlich, Prinz Orden hatte sich alleine retten müssen, denn sie hatte ihm nichts mehr zu bieten. Dumpf wurde ihr bewußt, daß dieser Tag nicht anders hätte enden können.
Vielleicht denken wir beide nüchterner, als wir es wahrhaben wollen, ging es ihr durch den Kopf.
»Auf Wiedersehen, mein Lord«, sprach sie leise Gaborns sich entfernender Gestalt hinterher und fügte einen alten Segensspruch für Reisende hinzu: »Mögen die Glorien jeden Eurer Schritte lenken.«
Sie drehte sich wieder um und blickte auf Raj Ahten hinab, der feixend seinen neuen Untertanen zuwinkte. Sein gescheckter grauer Hengst schritt stolz durch die gepflasterten Straßen, und die Bauern machten ihm freimütig Platz, während ihr Jubel lauter und lauter aufbrandete. Er war bereits hinter die zweite Verteidigungslinie der Stadt vorgedrungen, vorbei am Markttor. Er sprengte hinauf durch die Straßen und verschwand für einen Moment aus Iomes Blick.
Plötzlich stand Chemoise neben ihr. Die Prinzessin schluckte und fragte sich, was Raj Ahten ihr antun würde. Würde man sie töten? Foltern? Entehren?
Oder würde er ihr irgendeinen Posten überlassen, wo er ihren Vater als Herrscher regieren ließ? Auch das schien möglich.
Man konnte nur hoffen.
Unten bog Raj Ahten plötzlich um eine Ecke und war jetzt nur noch vierhundert Schritt entfernt.
Sie konnte sein Gesicht unter den geschwungenen weißen Flügeln seines Helms erkennen die reine Haut, das glänzend schwarze Haar, die leidenschaftslosen, braunen Augen.
Gutaussehend, sehr gutaussehend. So perfekt geformt als hätten Liebe und Güte sein Gesicht geschaffen.
Er schaute zu Iome hoch. Weil sie so schön war, wie nur eine Prinzessin der Runenlords schön sein konnte, gewöhnte sich Iome zunehmend an die manchmal gierigen Blicke von Männern. Sie wußte, wie sehr ihr Antlitz einen Mann erregen konnte.
Doch von allen Raubtierblicken, die ihr je zuteil geworden waren, ließ sich nichts mit dem vergleichen, was sich für sie in Raj Ahtens Augen offenbarte…
KAPITEL 9
Der Garten des Zauberers
Gaborn flog die Stufen des Bergfrieds der Übereigner fast hinunter, bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge im Innenhof an den stinkenden Idioten und Krüppeln vorbei.
Kommandant Ault lief neben ihm. »Junger Herr, bitte geht in die Küchen für die Übereigner und wartet dort, bis ich Euch jemanden schicke. In Kürze wird es dunkel sein. Wir werden einen Weg finden, Euch nach Einbruch der Nacht über irgendeine Mauer zu schaffen.«
Gaborn nickte. »Danke, Sir Ault.«
Seit Stunden wußte er, daß er aus der Burg Sylvarresta fliehen mußte, aber er hatte nicht gedacht, daß es so bald losgehen würde. Er hatte angenommen, daß die Verteidiger der Burg dem Angreifer eine große Schlacht liefern würden.
Die Burgmauern waren schließlich stark und hoch genug, um Raj Ahtens Armee in
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