Dunkel ueber Longmont
Vater schien in sich zusammenzusinken, fiel auf beide Knie. Er wußte, wie es sein würde: er würde sich in die Hosen machen, seinen Namen nicht mehr wissen, weder Frau noch Kinder noch seine besten Freunde wiedererkennen. Er hatte während des vergangenen Tages bereits einen deutlichen Verlust verspürt, als ihm Erinnerungen verlorengegangen waren. Er schüttelte den Kopf.
»Soll das heißen, Ihr wollt sie mir nicht überlassen, oder Ihr könnt es nicht?« fragte Raj Ahten.
Lord Sylvarresta breitete die Hände aus, schüttelte unfähig zu sprechen den Kopf.
»Ihr wollt nicht? Aber Ihr müßt!« meinte Raj Ahten.
»Ich kann nicht!« jammerte Iomes Vater. »Nehmt statt dessen mein Leben.«
»Ich will Euren Tod nicht«, beharrte Raj Ahten. »Welchen Wert hat der für mich? Aber Eure Geisteskraft!«
»Ich kann nicht!« sagte Sylvarresta.
Einem Feind eine Gabe zu überlassen, war eine Sache, Raj Ahten jedoch würde mehr rauben als Sylvarrestas Geisteskraft. Da Sylvarresta bereits mit Gaben ausgestattet war, würde Raj Ahten König Sylvarresta zu einem Vektor machen.
Ein Mensch konnte in seinem Leben nur eine einzige Gabe abtreten, und wenn diese Gabe übertragen war, erzeugte sie einen magischen Kanal, eine Verbindung zwischen Lord und Untertan, die nur durch den Tod unterbrochen werden konnte. Starb der Lord, fiel die Gabe wieder an ihren Spender zurück. Starb der Untertan, verlor der Lord die Eigenschaft, die er hinzugewonnen hatte.
Wenn aber ein Mann wie Sylvarresta seine Geisteskraft an Raj Ahten abtrat, dann gab er nicht nur seine eigene ab, sondern auch all jene, die er von seinen noch lebenden Übereignern übernommen hatte, dazu alle, die er in Zukunft vielleicht noch erhielt. Als Vektor wurde Sylvarresta eine lebende Zuleitung. Er trat Raj Ahten die Geisteskraft ab, die er erhalten hatte, und konnte möglicherweise sogar dazu benutzt werden, die Geisteskraft Hunderter anderer auf Raj Ahten zu lenken.
»Ihr könnt sie mir sehr wohl überlassen, vorausgesetzt, der Anreiz stimmt«, versicherte ihm Raj Ahten. »Was ist mit Euren Leuten? Ihr sorgt Euch um sie, nicht wahr? Ihr habt Diener und Freunde, denen Ihr vertraut, unter Euren Übereignern.
Mit Eurem Opfer könntet Ihr sie retten. Wenn ich Euch töten muß, werde ich Eure Übereigner nicht am Leben lassen – Männer und Frauen, die keine Gaben mehr zu bieten haben, Männer und Frauen, die sich vielleicht an mir rächen wollen.«
»Ich kann nicht!« wiederholte Sylvarresta.
»Nicht einmal, um das Leben von einhundert Untertanen zu erkaufen, von eintausend?«
Iome fand es widerlich. Sie haßte die geladene Stille, die folgte. Raj Ahten mußte die Gabe freiwillig bekommen.
Manche Lords versuchten sich der nötigen Bereitschaft durch Liebe zu versichern, andere, indem sie Profit versprachen. Raj Ahten benutzte Erpressung.
»Was ist mit Eurer wunderschönen Frau – meiner Cousine?«
fragte Raj Ahten. »Was ist mit ihr? Würdet Ihr die Gabe abgeben, um ihr Leben zu erkaufen? Ihre geistige Gesundheit?
Bestimmt werdet Ihr nicht wollen, daß ein so liebenswertes Geschöpf mißbraucht wird.«
»Tu es nicht!« rief Iomes Mutter. »Mich wird er nicht brechen!«
»Ihr könntet ihr das Leben retten. Sie würde es nicht nur behalten, sie würde sogar auf dem Thron bleiben und als Regentin und mein Stellvertreter herrschen. Auf dem Thron, den sie so liebt.«
Lord Sylvarresta drehte sich mit bebendem Kinn zu seiner Königin um. Er nickte zögernd.
»Nein!« schrie Venetta Sylvarresta. Im selben Augenblick wirbelte sie herum und rannte los. Iome glaubte, sie würde gegen die Wand prallen, doch zu spät erkannte sie, daß sie nicht auf die Wand zuhielt, sondern auf die mannshohen Fenster hinter den Days.
Plötzlich, schneller, als das Auge dies erfassen konnte, war Raj Ahten neben ihr und hielt ihren rechten Arm fest. Venetta wehrte sich gegen seinen Griff.
Sie wandte sich mit verzerrtem Gesicht zu ihm um. »Bitte!«
flehte sie und packte Raj Ahtens Handgelenk.
Dann, plötzlich, drückte sie zu, bohrte ihre Fingernägel in die Haut des Wolflords, bis Blut hervortrat. Mit einem triumphierenden Schrei sah sie Raj Ahten in die Augen.
Venetta rief ihren Gatten zu: »Jetzt siehst du, wie man einen Wolflord tötet, mein Geliebter!«
Plötzlich fiel Iome der klare Lack auf den Fingernägeln ein, und sie begriff – die Seelenqual der Königin war vorgetäuscht, ein Trick, um Raj Ahten zu sich zu locken, damit sie ihm die vergifteten Fingernägel ins
Weitere Kostenlose Bücher