Dunkel ueber Longmont
empfangen hatte. Die Liebe seines Volkes stützte und durchströmte ihn. Wenn seine Übereigner starben, blieb seine Macht erhalten – unvermindert.«
Das hatte sie nirgendwo gelesen. Es widersprach ihrem Verständnis der Kunst der Runenlords. Und doch hoffte sie, daß es stimmte. Sie hoffte, daß so etwas möglich war, daß Raj Ahten eines Tages aufhören würde, Menschen wie ihren Vater auszusaugen.
»Ich glaube«, fuhr Raj Ahten leise fort, »ich habe es fast geschafft. Ich denke, ich werde sein wie er und die Greifer ohne den Verlust von fünfzig Millionen Menschenleben besiegen, was bei jedem anderen Vorgehen der Fall sein würde.«
Iome sah ihm in die Augen, wollte ihn hassen für das, was er getan hatte. Ihr Vater lag in seinem eigenen Urin auf dem Boden zu ihren Füßen. Aber Iome blickte Raj Ahten ins Gesicht und konnte ihn nicht hassen. Er wirkte so… aufrichtig.
So wunderschön.
Nun streckte er die Hand aus, strich ihr übers Haar, und sie wagte nicht, den Kopf zurückzuziehen. Sie fragte sich, ob er versuchen würde, sie zu verführen. Und sie überlegte, ob sie die Kraft hätte, sich gegen ihn zu wehren, falls er das tat.
»So süß. Wärst du nicht mit mir verwandt, würde ich dich zur Frau nehmen. Aber ich fürchte, das verbietet der Anstand.
Nun, Iome, mußt auch du deinen Teil tun und mir helfen, die Greifer zu besiegen. Du wirst mir deine Anmut überlassen.«
Iome klopfte das Herz. Sie stellte sich vor, wie es sein würde – mit Haut so rauh wie Leder, mit dünnem, stumpfem Haar, das ihr ausfiel. Sie dachte daran, wie die Adern an ihren Beinen hervortreten würden. Der trockene Geruch ihres Atems. Wie es sein würde, abstoßend auszusehen und zu riechen – einfach abstoßend zu sein. Doch das war längst noch nicht der ganze Schrecken. Anmut war mehr als Schönheit, mehr als körperliche Lieblichkeit. Zum einen zeigte sie sich gewiß in der äußeren Gestalt, in der Farbe der Haut, dem Glanz des Haars, dem Licht, das in den Augen leuchtete. Zum anderen offenbarte sie sich als Haltung, als Ausgeglichenheit, Entschlossenheit. Der Kern lag oft im Vertrauen eines Menschen zu sich selbst, in seiner Liebe zu sich selbst.
Je nach Grausamkeit des beteiligten Annektors konnte ihr all dies entzogen werden, und zurückbleiben würde eine neue Übereignerin, die nicht nur häßlich war, sondern sich auch vor selbst ekelte.
Iome schüttelte den Kopf. Sie mußte Raj Ahten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Und doch kam ihr nichts in den Sinn, keine Möglichkeit, sich zu wehren.
»Komm, Kind«, sagte Raj Ahten aalglatt. »Was würdest du mit all deiner Schönheit machen, wenn ich sie dir ließe?
Irgendeinen Prinzen in dein Bett locken? Was für ein jämmerliches Begehren. Du könntest es tun. Aber anschließend würdest du es dein Leben lang bedauern. Du hast gesehen, wie Männer dich mit Lust in den Augen ansehen. Du hast gesehen, wie sie starren, wie sie dich fortwährend begehren. Du würdest es bestimmt leid werden.«
Als er es so ausdrückte, mit solch seidiger Stimme aussprach, fühlte sich Iome ganz elend. Es erschien ihr gemein und egoistisch, schön sein zu wollen.
»In der Wüste nahe dem Ort, wo ich geboren wurde«, erzählte Raj Ahten, »steht ein großes Denkmal, eine Statue, dreihundert Fuß hoch, halb umgestürzt im Sand. Es ist die Statue eines längst vergessenen Königs, dem der Wind das Gesicht abgeschliffen hat. Auf einem Spruchband zu seinen Füßen steht in einer alten Sprache geschrieben: ›Alle verneigen ihr Haupt vor dem Großen Ozyvarius, der die Welt regiert und dessen Königreich niemals untergehen soll!‹ Doch sämtliche Schriftgelehrten der Welt vermögen mir nicht zu sagen, wer dieser König war oder vor wie langer Zeit er regiert hat. Wir waren immer so vergängliche Geschöpfe«, meinte Raj Ahten leise. »Unser Sein war stets nur von begrenzter Dauer.
Zusammen aber, Iome, können wir mehr sein als das.«
Die Sehnsucht in seiner Stimme, das Verlangen, raubte Iome fast den Verstand. Sie war fast bereit, ihm ihre Schönheit zu überlassen. Doch eine klügere Stimme in ihrem Hinterkopf widersprach. »Nein, ich würde sterben, ich wäre ein Nichts.«
»Du würdest nicht sterben«, betörte sie Raj Ahten. »Wenn ich die Summe aller Menschen bin, wird deine Schönheit in mir weiterleben. Ein Teil von dir würde ewig überdauern, um geliebt und bewundert zu werden.«
»Nein!« rief Iome entsetzt.
Raj Ahten sah zu Boden, wo Lord Sylvarresta noch
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