Dunkel ueber Longmont
die Lippe biß.
»Bitte…«, flehte sie und fragte sich, ob ihr Vater vielleicht irgendwoher wußte, daß sie gelogen hatte, und sie bestrafen wollte.
Eremon Solette verzog entschuldigend das Gesicht, mühte sich nach Kräften ab, sich zu entkrampfen, seine Muskeln zu lockern, Chemoise loszulassen. Eine Minute lang gelang ihm nichts weiter, als daß er sie noch fester hielt, dann spürte Chemoise, wie sein Griff allmählich nachließ.
Die Köche hatten noch immer nicht die Brühe für diejenigen vorbeigebracht, die Gaben des Stoffwechsels abgetreten hatten. Etwas Festeres konnte Chemoises Vater bestimmt nicht essen. Seine weiche Bauchmuskulatur ließ sich nicht richtig zusammenziehen.
»Vater«, jammerte Chemoise, »ich habe so lange gewartet.
Ich habe mich so nach dir gesehnt… wenn du nur sprechen könntest, wenn du mir nur erzählen könntest, was passiert ist.«
Eremon Solette war in Aven gefangengenommen worden, in der Nähe von Raj Ahtens Winterpalast am Meer. Er war den weißen Turm hinaufgeklettert, wo dünne Vorhänge aus Lavendel im Wind wehten, und hatte sich in einem von Jasminduft erfüllten Raum wiedergefunden, in dem zahlreiche dunkelhaarige Frauen auf Polstern schliefen, nackt bis auf die dünnen Schleier, die ihre Haut verhüllten. Raj Ahtens Harem.
Auf einem Sandelholztisch lag eine Wasserpfeife aus Messing, aus der sich acht Schläuche wie die Tentakel eines Oktopus hervorwanden. Kugeln gerollten grünlichschwarzen Opiums im Kopf der Pfeife waren zu Asche verbrannt. Er gestattete sich, einen Augenblick lang stehenzubleiben und die Schönheiten zu seinen Füßen zu bewundern.
In goldenen Pfannen rings um die Betten glühten Kohlen, die den Raum angenehm warm hielten. Der süße Duft der Frauen hätte in diesem Raum paradiesisch wirken können, wäre da nicht der beißende Geruch des Opiums gewesen.
Aus einem angrenzenden Zimmer hatte er das wirre, schrille Lachen einer Frau gehört, Laute der Lust. Plötzlich packte ihn die wilde Hoffnung, er könnte Raj Ahten übermannen, solange er nackt und abgelenkt war.
Doch als er so dastand, leise seinen langen Dolch aus der Scheide zog, ganz in Schwarz gekleidet, mit dem Rücken zur Wand, wachte ein junges Mädchen auf und sah, wie er sich hinter den dünnen Vorhängen versteckte.
Eremon hatte versucht, sie zum Schweigen zu bringen, war hervorgesprungen, um ihr das Messer in die Kehle zu stoßen, doch sie war ihm mit einem Schrei zuvorgekommen.
Ein kleiner Eunuchenwächter sprang, aus dem Schlaf geschreckt, aus einem Alkoven hervor und schlug mit einem Knüppel auf Eremon ein.
Der Name des Eunuchen lautete Salim al Daub, ein massiger Kerl mit den für Eunuchen üblichen Rundungen, der weiblichen Stimme und den sanften braunen Augen eines Rehs.
Als Belohnung für die Ergreifung des Meuchelmörders machte Raj Ahten Salim ein prächtiges Geschenk. Er bot Salim eine Gabe der Anmut an, von Eremon höchstpersönlich.
Eremon hatte geglaubt, lieber sterben zu wollen, als Raj Ahtens Haremswächter eine Gabe abzutreten, insgeheim jedoch hegte er zwei Hoffnungen. Die erste große Hoffnung bestand darin, daß er eines Tages nach Heredon zurückkehren und seine Tochter wiedersehen würde.
Er starrte sie an. Sie war so schon geworden wie ihre Mutter.
Er konnte nicht anders, er mußte weinen, als er sah, daß sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen war.
Chemoise bemerkte, wie sich die Augen ihres Vaters mit Tränen füllten. Er schnappte keuchend nach Luft, hatte Mühe, vom einen Augenblick zum anderen am Leben zu bleiben, war unfähig, sich soweit zu entspannen, um seine Lungen mit Luft zu füllen. Sie fragte sich, wie er das sechs lange Jahre hatte durchhalten können.
»Geht es dir gut?« fragte sie. »Was kann ich für dich tun?«
Lange mühte er sich ab, um zwei Worte hervorzubringen, »Töte… uns.«
DRITTES BUCH
Der 21. Tag im Monat der Ernte: Ein Tag der Täuschungen
KAPITEL 13
Der pragmatische König Orden
Dreißig Meilen südlich von Burg Sylvarresta erhob sich ein hoher Felsen mit dem Namen Tor Hollick vierhundert Fuß hoch über dem Dunnwald, und von seinen Klippen hatte man einen weiten Blick.
Einst, vor langer Zeit, hatte hier eine Festung gestanden, doch von der war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben.
Viele waren fortgeschleppt worden, um Wohnhäuser zu bauen.
König Mendellas Draken Orden hockte unbequem auf einer abgebröckelten, mit Flechten überwucherten Säule und starrte in die Ferne, hinweg über die welligen
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