Dunkel wie der Tod
dir einzulassen, erwartest du vielleicht von mir, dass ich weitere zweiundzwanzig Jahre auf dich warte?â
âNicht nötig. Ich komm in zwei Jahren hier raus â vielleicht auch früher, wenn sie meine gute Führung berücksichtigen.â
âGute Führung? Du?â
âPfarrer Beals hat da was geschrieben, weshalb er findet, dass ich nächstes Jahr auf Bewährung entlassen werden sollte, und der Direktor hatâs schon abgesegnet. Jetzt liegt es beim Bewährungsausschuss, aber Beals sagt, wenn ich mich bis dahin aus allem Ãrger raushalte, dürfte es keine Probleme geben. Er will mir ein kleines Briefpult schenken, wenn ich rauskomme, damit ich â¦â
âAch, du lieber Himmel.â Die Welt schien sich auf einmal um ihre eigene Achse zu drehen. Nell hielt sich rasch an der Tischkante fest. âDas glaube ich nicht. Das glaube ich einfach nicht!â
âGewöhn dich besser schon mal dran, mein Schatz, denn eh du dichâs versiehst, bin ich ein freier Mann, und dann werden wir beide wieder zusammen sein â so wie früher.â
Ihre Stimme bebte vor Empörung, als sie ihn fragte: âGlaubst du allen Ernstes, ich würde dich jemals wieder in meine Nähe lassen â nach allem, was du mir angetan hast?â
âIch bin jetzt ein ganz anderer Mann, als ich damals warâ, erwiderte er und streckte seine Hand nach dem Türknauf aus. âWenn ich hier erst mal raus bin und du mich wieder besser kennenlernst, wirst du merken, dass es stimmt.â
âNiemals! Ich nehme dir nicht ab, dass du dich verändert hast, Duncan â zumindest nicht grundlegend, und darauf käme es anâ, entgegnete sie, als er die Tür weit öffnete. âDu bist immer noch derselbe miese, durchtriebene Mistkerl, der du schon immer gewesen bist, und ich soll verdammt sein, wenn ich jemals zu dir zurückkomme und dich â¦â
Pfarrer Beals, der drauÃen auf dem Gang stand, sah sie ungläubig an, sichtlich erschüttert, derlei Worte aus ihrem Munde zu vernehmen.
Duncan schüttelte sich vor Lachen. âOh Nell ⦠mein liebstes Mädchen, ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, dich wiederzusehen!â
7. KAPITEL
Wird auch langsam Zeit, dachte Nell, als die Haustür von Nummer 10 der Commonwealth Avenue endlich aufging. Gelbes Gaslicht drang nach drauÃen, und schemenhaft sah sie einen Mann aus Harry Hewitts hübschem Brownstone-Haus mit den groÃen Erkerfenstern kommen und die Treppe hinuntereilen.
Es war Neumond und daher recht dunkel, und Nell stand gut dreiÃig Meter vom Haus entfernt. Sie hatte sich hinter einer der vielen Platanen versteckt, die man kürzlich erst gepflanzt hatte und die nun in zwei majestätischen Baumreihen den noch im Bau befindlichen Boulevard in einen nördlichen und einen südlichen Abschnitt unterteilten. Trotz der Dunkelheit erkannte sie â sehr zu ihrem Verdruss â, dass der Mann, der nun eiligen Schrittes zur nahe gelegenen Arlington Street lief, nicht Harry war. Er war zu klein, zu schmächtig. Harry war hingegen hochgewachsen â zwar nicht gar so groà wie sein Bruder Will, doch gröÃer als der Durchschnitt, und er bewegte sich mit jener natürlichen Anmut, die allen Hewitts, auch den Männern, eigen war.
Als er unter einer StraÃenlaterne entlanglief, erkannte Nell ihn: ein Mann um die vierzig mit sich lichtendem blonden Haar und mit grauer Hose und schwarzem Frack recht ansehnlich gekleidet. Es war Edwin Speck, Kammerherr und Allzweckdiener, den Harry mit sich in die Commonwealth Avenue gebracht hatte, als er letzten März aus dem Haus seiner Eltern ausgezogen war. Damals war Harry zutiefst empört, weil sein Vater sich weigerte, Nell zu entlassen, die doch ânichts weiter sei als eine unverschämt anmaÃende kleine Torftreterin, die lieber lernen sollte, Kartoffeln zu schälen und ihren verdammten Mund zu haltenâ. Dass August Hewitt Nell ohne groÃes Federlesens rausgeschmissen hätte, würde seine Frau ihm nicht gedroht haben, ihn zu verlassen, sollte er das tun, vermochte Harry keinesfalls zu besänftigen. Und wie schon so oft, war auch diesmal Leo Thorpe zu seiner Rettung eingesprungen. Mr. Hewitts Freund Thorpe gehörte ein Stadthaus in der Back Bay, in dem dereinst sein Sohn Jack gelebt hatte, und das Harry sich nun zu mieten erbot. Seitdem hatte er nicht eine Nacht mehr unter dem Dach seiner
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