Dunkel wie der Tod
Krümelhaufen verwandelt hatte â mehr aus Anspannung heraus, denn aus fleiÃigem Vorsatz â, nahm sie die Serviette zusammen und brachte Gracie die Brotkrumen. Der Himmel verfinsterte sich zusehends, die Bäume schwankten leicht im Wind. Wäre Will nicht bei ihnen gewesen, hätte sie mit Gracie längst den Heimweg angetreten.
âHat er denn erwähnt, dass er gesehen hat, wie Virgil Bridie am Freitag geküsst hat?â, fragte sie, als sie zur Bank zurückkehrte.
âOb er es erwähnt hat? Er war auÃer sich vor Wut!â
âWarum eigentlich? Wie Sie bereits sagten, war Bridie keinesfalls unbedarft, und das wusste Harry. Die Affäre der beiden war ja wohl kaum eine Herzensangelegenheit.â
âUm das zu verstehen, sollten Sie wissen, dass sie ihn keine zwei Wochen zuvor hat wissen lassen, dass sie in anderen Umständen sei.â
âAch herrje.â Das wird ja immer seltsamerer, wie Gracie jetzt sagen würde. âVon ihm?â
âSie hatte ihm hoch und heilig geschworen, dass es seines wäre und es den ganzen Sommer über keinen anderen gegeben hätte.â
âAh ja. Er wusste demnach nichts von Virgil.â
Will stieà einen tiefen Seufzer aus. âHarry gab ihr vierzig Dollar und die Adresse einer französischen Hebamme, die sich wohl sehr gut darauf versteht, derlei, mmh, missliche Umstände zu beheben.â
Nell zuckte unwillkürlich zusammen und legte sich die Hand auf den Bauch. âEs kann kaum so viel kosten, sich ⦠solcher Dienste zu behelfenâ, wandte sie ein.
âSoweit ich weiÃ, kostet es lediglich ein paar Dollarâ, sagte Will und drückte seine Zigarette aus. âDer Rest war ⦠Bestechungsgeld, wenn man so will. Ein kleiner Anreiz, damit sie über ihre Beziehung zu ihm den Mund hielt.â
Dafür war es wiederum sehr knauserig, fand Nell, vor allem, wenn man bedachte, welche Unsummen Harry regelmäÃig am Spieltisch verschleuderte. âWarum hat Harry sich selbst um diese Angelegenheit gekümmert? Ihr Vater lässt so etwas doch immer von Leo Thorpe erledigen.â
âDie Geduld des alten Herrn fängt langsam an zu schwinden. Er hat sich Harry wohl zur Brust genommen und fürchtet um den Ruf der Familie. Für den Heiligen Augustus gibt es ohnehin nur zwei Söhne â Martin und Harry. Und nun, da Martin sich für die Religion berufen fühlt, bleibt nur noch Harry als Nachfolger für die Familienunternehmen und Repräsentant der Hewitts in der Bostoner Gesellschaft. Vor einigen Monaten hat er Harry zu sich in die Bibliothek beordert und ihn wissen lassen, dass die Tage seiner sorglosen Ausschweifungen gezählt seien und er sich ab jetzt zusammenzureiÃen habe, wenn er nicht die Konsequenzen tragen wolle.â
âKonsequenzen?â
âEnterbung.â
Nell sah Will mit groÃen Augen an. âNein! Das würde er doch niemals tun.â
âLaut Harry war es ihm todernst damit. Er hat ihm sogar angedroht, dass Leo ihm fortan nicht mehr helfen werde, wenn er wieder mal verhaftet würde, ein Fabrikmädchen schwängerte oder der Familie anderweitig Schande bereitete.â
Will schaute seiner Tochter zu, wie sie fröhlich am Ufer entlanglief und der aufgeregten Entenschar Brotkrumen zuwarf. Sein klar geschnittenes Profil und die marmorblasse Haut â Letzteres rührte aller Wahrscheinlichkeit vom Morphium her â lieà Nell an die Worte des Fabrikmädchens Cora denken. Er hatte ein Gesicht wie eine von diesen römischen Statuen! Es war ein dramatisches Gesicht â ein Gesicht, das geradezu danach verlangte, mit kräftigen schwarzen Kohlestrichen auf leicht angerautes Papier gebannt zu werden.
âSchön und gutâ, meinte sie, âaber allen Drohungen zum Trotz, scheint Harry seinen Lebenswandel keineswegs geändert zu haben.â
âEr hat mir versichert, sich seither um Diskretion zu bemühenâ, erwiderte Will. âSeine Ausschweifungen beschränkt er nun auf die Nachtstunden und auf private Veranstaltungen, und wenn ihn doch einmal Lust auf das überkommt, was er âStraÃengesindelâ nennt, schickt er seinen beflissenen kleinen Kammerdiener aus und lässt ihn den Vermittler spielen, statt sich das Gewünschte selbst zu besorgen.â
âUnd das versteht er unter Diskretion?â
âFür Harry sind das bereits erhebliche Zugeständnisse. Ihm
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