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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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den Brokatvorhängen heruntergelassen hatte. Verdutzt sah Nell, dass die Thorpes sogar den riesigen Kronleuchter aus venezianischem Kristall hatten hängen lassen, der ihr schon immer als zu groß geraten erschienen war. Harry hatte das Gas heruntergedreht, sodass der überdimensionierte Lüster nur schwach strahlte, was den Raum in unheimliches, von den zahllosen Kristallen gebrochenes Dämmerlicht hüllte.
    Ohne Umschweife brachte Nell ihr Anliegen zur Sprache: „Ich wollte fragen, ob wir das Kriegsbeil nicht endlich begraben können.“
    Harry stieß sein Messer in das erst halb verzehrte Täubchen auf seinem Teller und trank sein Glas aus. „Warum sollten wir?“ Er griff nach der Karaffe neben sich, die einen grünlich-gelben Likör enthielt, und begann sein Glas mit jener übertriebenen Umsicht nachzufüllen, die erkennen ließ, wie betrunken er bereits war.
    Es war kein kristallenes Weinglas, wie Nell auf den ersten Blick angenommen hatte, sondern eines dieser speziellen Absinthgläser mit hohlem Stiel, in dem man die Menge dosieren konnte. Ganz langsam und bedächtig goss Harry mit trübem Blick und voller Absicht so lange nach, bis der Absinth den Stiel schon um gut zwei Fingerbreit überstiegen hatte, und knallte dann den Glasstöpsel mit solcher Wucht in die Karaffe, dass Nell fast erwartete, sie würde zerbrechen – was sie allerdings nicht tat.
    Wenn sie später an diesen Abend zurückdachte, sollte sie es immer bedauern, nicht gleich auf dem Absatz kehrtgemacht zu haben und gegangen zu sein. In diesem Zustand wird er leichter zu handhaben sein, hatte sie sich gedacht. Bedächtiger, nachsichtiger, empfänglicher für ihre Vorschläge.
    Wie dumm sie gewesen war.
    â€žSie brechen Ihrer Mutter das Herz, wenn Sie sich derart von ihr entfremden“, ließ sie ihn wissen.
    â€žDas hätte sie sich überlegen sollen, bevor sie den alten Herrn erpresste, damit er Sie bleiben ließe.“ Mit sichtlicher Freude über seine Geschicklichkeit balancierte Harry den Absinthlöffel über seinem Glas, bevor er einen Zuckerwürfel darauflegte.
    Entschlossen straffte Nell die Schultern. Bevor sie hierher aufgebrochen war, hatte sie sich ihr Kostüm aus blauer Merinowolle angezogen, das sie insgeheim immer Die Uniform nannte, weil das Oberteil so militärisch anmutete. Obwohl die Jacke sich vorne durchgehend mit Haken und Ösen schließen ließ, trug Nell sie jedoch gern nur am Hals geschlossen, damit ihre liebste Hemdbluse zu sehen war – weiß mit kleinen schwarzen Bordüren entlang der Knopfleiste. Ein maskulin anmutender Hut vervollständigte ihre Garderobe, in der sie sich stets etwas selbstsicherer und unverwundbarer fühlte als sonst – fast so, als hätte sie eine Rüstung angelegt.
    â€žDie Verantwortung für dieses Zerwürfnis liegt ganz allein bei mir“, sagte sie.
    Harry schien darüber nachzusinnen, derweil er bedächtig aus einem Krug Wasser über den Zuckerwürfel laufen ließ. Das Gemisch aus Absinth und Zuckerwasser trübte sich zusehends ein und nahm langsam eine weißliche Färbung an.
    â€žSo hat es gewiss den Anschein – auf den ersten Blick zumindest.“ Er stand auf, wobei seine Serviette zu Boden fiel, und hielt das Glas hoch ins Licht, um die bleich schillernde Flüssigkeit zu bewundern, die tatsächlich von unheilvoll faszinierender Schönheit war. Selbst aus der Entfernung – Nell stand am anderen Ende des langen Tisches – konnte sie den aromatischen Anisduft des Likörs riechen. Harry trug an diesem Abend eine bunt gestreifte Weste und eine dazu passende Krawatte in Dickens-Manier, die er gewiss auch zur Arbeit in der Tuchfabrik getragen hatte. Seinen Gehrock hatte er indes gegen einen Hausmantel aus amethystfarbenem Samt eingetauscht, verziert mit gemusterten Bordüren und seidenen Quasten.
    â€žSie haben sich zu einer aberwitzigen Anschuldigung gegen mich verstiegen.“ Er sprach langsam und betonte jedes Wort mit ausgesprochener Sorgfalt, um das Ausmaß seiner Trunkenheit zu verbergen. „Und was noch schlimmer is’, Sie haben es in Gegenwart meiner Familie getan, vor der halben Bostoner Gesellschaft. Aber!“ Er hob bedeutungsvoll den Zeigefinger. „Letztlich war es Mama, die Vater davon abgebracht hat, Sie mit Ihr’m hübschen kleinen Hintern voran rauszuwerfen, wie Sie es verdient

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