Dunkel wie der Tod
hätten.â Harry hob das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug halb leer.
Nun schon etwas schwankend, fuhr er fort: âDas hättâ sie besser wissen sollen und sich nicht gegen uns auf Ihre Seite stellen sollen. Ist aber eine verbreitete Schwäche unter den ⦠ups ⦠unter den mitfühlenden Gemütern der besseren Schichten â anzunehmen, dass die unteren Schichten im Grunde dieselben edlen Eigenschaften haben und nur schnöder Mammon uns von ihnen trennt. Der ganze Unitarier-Unsinn, mit dem Martin immer ankommt. Solche Leute â Leute wie Martin und Mama â suchen dann immer ganz verzweifelt nach Entschuldigungen, wenn Ihresgleichen ihr wahres Gesicht zeigen.â
âMeinesgleichen ?â Ehe sie es sich versah, hatte sie es auch schon gesagt â noch dazu recht empört. Dr. Greaves würde sie ermahnt haben, dass sie besser nachdenken solle, bevor sie sprach.
Harry leerte sein Glas und griff abermals nach der Karaffe. âIst doch kein Geheimnis, warum die Iren so leben, wie sie leben â zusammengepfercht in ihren elenden kleinen Löchern unten am Hafen, sich gegenseitig ausplündern und jeden, der das Pech hat, ihnen zufällig über den Weg zu laufen. Eine ganz mindere Art ist das ⦠die Iren â geistig verkümmert, zu faul, um einer geregelten Arbeit nachzugehen, zu unbeherrscht, um sie zu behalten, wenn sie denn mal eine haben, und jederzeit bereit â¦â
Nell stieà einen harschen Laut der Empörung aus und lieà ihren Blick auf der Karaffe ruhen, die mittlerweile leer war, und auf dem Glas in seiner Hand, das er sich soeben das dritte Mal â wenn nicht gar das vierte oder fünfte Mal â nachgefüllt hatte. âSie haben es nötig, von Unbeherrschtheit zu sprechen!â
âMoment ⦠wo war ich stehân geblieben? Ach ja ⦠und jederzeit bereit, sich provozieren zu lassen.â Harry bedachte sie mit einem süffisanten Lächeln, während er sich trunken abmühte, den Löffel mit dem Zuckerwürfel über sein Glas zu halten. âWie Sie soeben freundlicherweise bestätigt haben. Schauân Sie sich an â könnten ja nicht roter im Gesicht sein, wenn ich Sie geohrfeigt hätte. So schön erröten nur Iren.â Als er sein Glas mit Wasser auffüllte, fügte er hinzu: âBesonders ihr milchhäutigen Mädels mit einem kleinen Hauch von Feuer im Haar.â Er prostete ihr zu und nahm einen tiefen Schluck.
Nell verfluchte ihre vor Wut geröteten Wangen, die sich indes nur noch dunkler färbten, als Harry sie selbstgefällig grinsend anschaute. Langsam löste sie ihre geballten Fäuste und holte tief Luft. âIch bin allein wegen Ihrer Mutter gekommen. Trotz Ihrer Abneigung gegen mich bedeutet Ihre Mutter Ihnen doch sicher genug, sodass wir uns irgendwie einigen könnten.â
Gemächlich kam er zu ihr herüber und schwenkte dabei den Rest Absinth in seinem Glas. Er trug goldbestickte Pantoffeln, die aus demselben amethystfarbenen Samt gefertigt waren wie sein Hausmantel. âIch muss ja gestehân, dasses eins gibt, was ich vermisst hätte, wenn Vater Sie hätte rauswerfen können â diese rotglühenden Wangen. Die verraten Sie nämlich, oh ja. Jede Leidenschaft, die in Ihnen lodert â Hass, Verbitterung ⦠Verlangen â steht Ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.â
Verlangen ? âDas bilden Sie sich nur ein.â
âAch ja?â Harry blieb wenige Schritte vor ihr stehen und verneigte sich spöttisch. âBitte aufrichtig um Entschuldigung, werte Dame, wenn Ihre Befindlichkeit verletzt wurde.â Als er wieder aufsah, richtete er den Blick mit offenbarer Schwierigkeit auf etwas hinter Nell. âJa, Speck?â
Hinter ihr stand der beflissene kleine Kammerdiener, je eine Hand auf die kunstvoll geschnitzten Schiebetüren gelegt, welche er gerade schlieÃen wollte. Dass Nell ihn nicht hatte kommen hören, sprach für seine gut geölten Gummisohlen, sein Talent zur Heimlichkeit oder aber für beides.
âSoll ich Ihre Abendgarderobe herauslegen, Sir?â, fragte Speck.
âNein, heute nicht. Aber Sie können kurz um die Ecke gehen und mir eine neue Flasche Pernod holen.â Harry kippte den restlichen Absinth hinunter und knallte das Glas auf den Tisch. âSieht so aus, als würde ich heut Abend zu Hause bleiben, wo ich schon mal so
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