Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
Kunstwettbewerbs hatten kräftig die Werbetrommel gerührt. Die Exponate waren nach den Altersklassen der Wettbewerbsteilnehmer gehängt und gestellt worden. Die Werke der Fünf-bis Neunjährigen befanden sich vorn im Saal, die der Zehn- bis Fünfzehnjährigen hinten.
Vanessa, mit ihren Männern im Schlepptau, bahnte sich einen Weg durch die Menge in den Bereich des Ballsaals, wo sie Johnnys Bild vermutete. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Sie hoffte, dass ihr Sohn in seiner Altersklasse den ersten Preis gewann, sie hoffte es nicht für sich, sie hoffte es für ihn, weil er es sich so sehr wünschte.
In dem Moment, als sie die Gesichter der Schwiegerfamilie sah, wusste sie, dass Johnny nicht den ersten Preis gewonnen hatte. Statt des begehrten goldenen Bandes, schmückte ein blaues Band die untere Ecke seines Bildes. Dritter Platz. Sie sah Johnny an. Sein Blick verfinsterte sich, er war enttäuscht.
»Ich weiß nicht, wer die Preisrichter sind, aber auf jeden Fall können sie Mittelmaß nicht von Talent unterscheiden«, schimpfte Garrett und kippte den Rest seines Drinks.
»Nächstes Jahr bekommst du eine neue Chance«, sagte Annette, schmerzliche Enttäuschung klang in ihrer Stimme mit.
Christian legte seine Hand auf Johnnys Schulter. »Sollen wir ein paar von den anderen Sachen anschauen?«
»Klar.« Er blickte fragend zu seiner Mutter.
Vanessa hatte den Eindruck, dass er regelrecht erleichtert war, so als bräuchte er ein wenig Abstand von seiner Familie. »Geht nur«, sagte sie. »Ich bleibe hier bei den anderen.«
Sie beobachtete, wie die beiden sich entfernten. Christians Hand lag wieder auf Johnnys Schulter.
Christian wartete darauf, dass Johnny etwas sagte. »Ganz schön viele Teilnehmer«, sagte er schließlich, während sie von einem Werk zum nächsten gingen. »Und du warst in deiner Altersklasse einer der Jüngsten.«
Johnny schaute grinsend zu ihm hoch. »Du brauchst mich nicht zu trösten. Ich bin schon okay. Ich wollte zwar unbedingt gewinnen, aber ich hab’s nicht geschafft, was soll’s?«
Was für ein Junge. Christian war bereits in der kurzen Zeit, die sie sich kannten, aufgefallen, wie erstaunlich erwachsen und vernünftig Johnny für sein Alter war.
»Weißt du, ich verstehe zwar nichts von Kunst, aber ich finde dein Bild wirklich toll, und das sage ich nicht, um dich zu trösten.«
»Danke.«
Sie blieben vor einer Tonfigur stehen, die eine Art Drachen darstellte. »Ich hab auch mal versucht zu töpfern«, sagte Johnny. »Mom hat mir Ton gekauft, und ich hab mich echt angestrengt, aber am Ende sah das Ding immer noch aus wie ein einfacher Tonklumpen.«
Christian lachte. »Ich glaube, jeder Affe könnte besser malen als ich.«
Johnny kicherte. »Mom kann auch nicht malen.«
Sie gingen durch die Gänge und betrachteten die verschiedenen Arbeiten, bis sie irgendwann bei dem Bild ankamen, das mit dem begehrten goldenen Band ausgezeichnet war.
Johnny musterte die Landschaft eine ganze Weile und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. »Das hat den ersten Preis verdient«, sagte er schließlich. »Es ist besser als meins.«
Christian sagte nichts darauf, denn er hatte das Gefühl, dass Johnny noch nicht fertig war. »Er hat die Schatten super hingekriegt. Siehst du, links von den Bäumen und im Wasser? Ich muss unbedingt Scott fragen, wie man das macht.«
Christians Hand lag immer noch auf Johnnys Schulter , und er spürte, dass sich die Muskeln des Jungen anspannten. Johnny seufzte und sah auf einmal sehr traurig aus. »Ich wollte nur gewinnen, damit er stolz auf mich ist.«
»Wer? Scott?« Christian nahm seine Hand von Johnnys Schulter.
Johnny schüttelte den Kopf. »Nein, mein Dad.« Er lachte gezwungen. »Blöd, oder? Ich meine, er ist tot und so, aber ich dachte, vielleicht guckt er vom Himmel zu mir runter und kann endlich stolz auf mich sein.«
Im ersten Moment wusste Christian nicht, wie er reagieren sollte. Es lag eine solche Sehnsucht in Johnnys Stimme, dass er sich fragte, wie die Beziehung zwischen Jim Abbott und seinem Sohn ausgesehen hatte. »Ich bin sicher, dass dein Vater sehr stolz auf dich war«, sagte er nach einer Weile.
»Vielleicht«, erwiderte Johnny wenig überzeugt. »Ich glaube, die meiste Zeit hat er gar nicht gemerkt, dass es mich gibt. Er hat immer nur gemalt. Die ganze Zeit.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und dieser Seufzer erinnerte Christian an seine eigene Sehnsucht als vaterloser kleiner Junge. Sein Vater hatte immer nur Klavier
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