Dunkelmond
von ihm oder Tarind würde freilassen oder in sich verschließen müssen. Der Gedanke daran brachte sie beinahe um. Was für eine Schande!
Aber etwas in ihrem Inneren, etwas, das eng mit den Bildern von dem Erlebnis in Ys’ Heiligtum verbunden war, sehnte denZwilling des Königs geradezu mit Inbrunst herbei. Ihre Erinnerungen an ihre Begegnung waren nicht verblasst, im Gegenteil, jedes dieser Treffen, zu denen der Fürst sie kommen ließ, schien ihre Leidenschaft für ihn nur noch zu schüren. Er berührte sie, und der kühlende, duftende Weihrauch, den er in sie schickte und der ihrem flammenden Wesen so fremd war, war angenehm und löschte alle Unruhe, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich zu wehren hatte. Seine Magie war anders und durfte nicht von ihr Besitz ergreifen.
Es war eine Qual, dieses Fremde in ihr, das er jeden Abend aufs Neue weckte, zu lieben und zu wissen, dass es keine Hoffnung gab, diese Liebe könnte je in Erfüllung gehen. Stattdessen musste sie sich ihrer sogar schämen. Es schien grundfalsch, ein Verstoß gegen alles, was Ys je geschaffen hatte.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange es diesmal dauerte, bis Telarion Norandar schließlich von ihr abließ.
Als die scharfe Kälte aus ihr verschwand und diese unangenehme Leere in ihr zurückließ, bedauerte Sanara das für einen Moment. Dann bemerkte sie, dass seine Finger nach wie vor auf ihrer Wange und ihrer Schläfe lagen und nicht losließen.
Einen Augenblick rührte sie sich nicht, dann schlug sie die Augen auf. Sein Blick lag auf ihr, diesmal ganz ohne den Hass und den Abscheu, der sich sonst darin zeigte, sondern vielmehr verwundert über das, was er in der Hand hatte.
Sanara hielt den Atem an. Sie genoss die Berührung und musste sich zusammennehmen, um ihre Wange nicht in seine Hand zu schmiegen. Sie wusste, dieser Augenblick würde nicht lange anhalten, und doch wünschte sie sich, er hätte ewig gedauert.
»Mein Fürst?«
Sanara zuckte zusammen. Auch der Heermeister sprang erschrocken auf, als die Stimme seines Hauptmanns aus den Schatten des ethandin erklang. Er ballte die Hand, die an ihrem Gesicht gelegen hatte, zur Faust – als habe sie etwas Verbotenes berührt.
Dann schälte sich im blassen Licht der goldenen Laternen dasGesicht des Gomaran von Malebe aus dem Halbdunkel. »Mendaron Norandar, Euer Bruder wünscht, dass Ihr zu ihm kommt und die Abendmahlzeit mit ihm, seiner Gemahlin und seinen Generälen einnehmt.«
Telarion warf Sanara noch einen letzten Blick zu, der von seiner Verwirrung zeugte, dann wandte er sich endgültig ab und Gomaran zu. Der Hauptmann schenkte ihr keine Beachtung.
»Ich bin noch nicht fertig mit dieser hier«, sagte der Heermeister und zog sich eine weite Jacke über das Hemd. Seiner Stimme war nichts von der Zärtlichkeit anzuhören, die Sanara noch vor wenigen Augenblicken zu spüren geglaubt hatte. »Ich vertraue sie dir an.«
Gomaran nickte. »Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass sich ihr niemand nähert.« Er begleitete seinen Ziehbruder bis zum Ausgang, dort ließ er sich nieder.
Erschöpft und enttäuscht, dass Gomaran den Moment mit dem Fürsten unterbrochen hatte, presste Sanara das Gesicht an die glatte Zeltstange, an die sie gebunden war. Fast wünschte sie, der Fürst hätte befohlen, sie wieder in den Wagen zu bringen, damit sie richtig schlafen konnte. Sie schloss die Augen und versuchte, die Sehnsucht nach Telarions Nähe zu unterdrücken.
Sie war fast eingeschlafen, als Töne ihr Ohr erreichten.
Jemand spielte Flöte. Eine lange, getragene Melodie, die ohne Refrain, ohne Strophen auszukommen schien, wie es sonst die Lieder der Elben auszeichnete.
Sie wusste sofort, wer es war: Ronan. Sie sah auf und versuchte, aus dem Eingang des Zelts hinauszusehen. Doch es war bereits zu dunkel. Das dichte Laubwerk des Bergwaldes und die düsteren Regenwolken darüber ließen das Licht der Zwillingsmonde nicht bis auf den Waldboden. Die einzige Beleuchtung im Lager waren die düsteren Laternen der Elben, die ein sternenartiges Licht verbreiteten, sodass keine Feuer entzündet werden mussten. Sanara versuchte, in dem kleinen Fleck Wald vor dem ethandin zu erkennen, ob Ronan in der Nähe saß. Dabei war sieimmer bemüht, nicht die Aufmerksamkeit des Hauptmanns auf sich zu ziehen.
Das Lied hatte Passagen, die so leise waren, dass Sanara sie kaum hören konnte, dann wieder meinte sie, Funken zu sehen, die durch die zunehmende Dämmerung schwebten und nach ihr suchten.
Sie erschrak. Der
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