Dunkelziffer
Wunschtraum, die Materialisierung des Libertinismus eines amoralischen Zeitalters. Für andere war er das Opfer eines Eifersuchtsmords - keiner konnte in den zügellosen Kreisen mehr Erfolg haben als Rigmondo, das war mehr, als die potenziellen Konkurrenten anzubieten hatten. Für wieder andere war er entführt und für unbekannte Zwecke benutzt worden. Auch dafür gab es mehrere Theorien.
Eine dieser Theorien interessierte Paul Hjelm ganz besonders. Ihr zufolge befand sich im Publikum an diesem Maiabend 1742 ein junger schwedischer Adliger, der auf seiner grand tour war, also auf der europäischen Bildungsreise, die die männlichen Abkommen der schwedischen Aristokratie absolvieren mussten, um Lebenserfahrung zu sammeln. Der Name des jungen Adligen war Andreas Clöfwenhielm. Ein Augenzeuge behauptet, Clöfwenhielm habe die Vorstellung, wenige Minuten bevor Rigmondo von der Bühne abtrat, verlassen. Die Theorie läuft darauf hinaus, dass sich Clöfwenhielm hinter der Bühne mit Rigmondo traf und ihn kurzerhand mit nach Schweden nahm. Der junge Adlige reiste von Südfrankreich geradewegs nach Hause - so geradewegs, wie es damals eben ging. Zwei Monate nach seiner Heimkehr gründete er eine geheime Gesellschaft.
Geheime Gesellschaften waren en vogue im achtzehnten Jahrhundert. Zu keiner anderen Zeit haben so viele und verschiedenartige kultische Vereinigungen und Verbindungen das Licht des Tages erblickt. Aber gerade das Licht des Tages sahen sie nie. Sie blieben ein dunkler, ungreifbarer Unterstrom unter dem rationalen Streben der Aufklärung nach Licht und Klarheit. Als ob das eine nicht ohne das andere sein, das eine nicht entstehen konnte, ohne dass gleichzeitig das andere entstand.
In Stockholm blühten allerlei geheime Gesellschaften, und die Quellen im Internet erwähnen an einigen Stellen Andreas Clöfwenhielm als Gründer und Großmeister eines geheimen Ordens namens Fac ut vivas. Über die Einrichtung, Zielsetzung und Rituale dieses Ordens wird sehr wenig berichtet, aber in den 1920 er -Jahren hatte ein deutscher Forscher bei einer Aufzählung geheimer Gesellschaften mit libertinärer Ausrichtung laut einer Internetseite in einer Fußnote auf Fac ut vivas hingewiesen. Sonst gab es nichts. Alles in allem schien die Gesellschaft ebenso kurzlebig gewesen zu sein wie neunundneunzig Prozent aller geheimen Gesellschaften des achtzehnten Jahrhunderts.
Wenn da nicht noch etwas anderes gewesen wäre. Es konnte natürlich ein Zufall sein, ein Schreibfehler oder ein Scherz, aber als Paul Hjelm weiter nach Fac ut vivas googelte, fand er - zwischen allen Treffern, die nur von dem lateinischen Ausdruck »fac ut vivas« handelten, der ungefähr so viel bedeutet wie >schaff dir ein Leben<, >get a life< - den Verweis auf eine Mitarbeiterseite eines IT-Beratungsunternehmens namens Theta International Communications AB. Der Link verwies auf einen Geschäftsführenden Direktor namens Olof Lindblad, der in seiner Kurzvita anführte, dass er Mitglied in Djurgärdens IF, Danderyds Golfklub, Rotary, Fac ut vivas und David Bowie Official Fan Club sei.
Seltsame Konstellation, dachte Paul Hjelm und notierte den Namen Olof Lindblad. Dazu schrieb er den Namen Andreas Clöfwenhielm, und als er den Namen niederschrieb, in dem sein eigener in altmodischer Schreibweise enthalten war, da machte etwas klick in ihm.
Er meinte, irgendwann, irgendwo schon einmal auf den Namen gestoßen zu sein. Nicht auf den von Andreas aus dem achtzehnten Jahrhundert, sondern auf einen anderen in der Gegenwart. Er versuchte sich zu erinnern.
Und die Erinnerung führte ihn zurück zu einem uralten Fall, dem allerersten der A-Gruppe, noch bevor sie Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei hieß. Der alte Chef Hultin hatte Hjelm aus Huddinge, Holm aus Göteborg, Chavez aus Sundsvall, Nyberg aus Nacka, Norlander aus Stockholm und Söderstedt aus Västeräs versammelt. Diese, die ursprüngliche A-Gruppe, jagte einen Serienmörder, der unter der Bezeichnung Machtmörder lief. Im Laufe der Ermittlungen landete Hjelm in einem Kellergewölbe in Gamla Stan, in einem geheimen Orden mit Namen - wie hieß er noch? - Mimer. Und hieß der sogenannte Großmeister nicht Clöfwenhielm?
»Doch«, sagte Hjelm laut zu den Wanzen in der tragischen Einzimmer-Junggesellenwohnung auf Kniv-Söder. »Ein Mann mit einem dröhnenden Lachen.«
Er klickte die Gelben Seiten im Internet an. Es gab nur einen Clöfwenhielm im
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