Dunkelziffer
vor Mittsommer enthalten die Nächte in Stockholm Spuren von Dunkelheit. Die Sonne taucht nur kurz unter die Wölbung des Horizonts. Die Nacht zeigt sich beinahe unmerklich, wenn man sich nicht mitten in ihr befindet. Aber tut man das, dann ist es sehr besonders. Alles wird still. Alle Geräusche scheinen mit der Sonnenscheibe hinuntergesogen zu werden. Alle Bewegungen erstarren. Es ist, als wäre man der Einzige, der nicht bemerkt hat, dass man sich in einem Standfoto befindet.
Der Mann steht am Fenster und sieht das Licht schwinden. Er beobachtet seinen wachsenden Schatten, der sich an der völlig weißen Wohnzimmerwand ausbreitet. Er sieht ihn wachsen, neue Formen annehmen, sich verformen, bis er geschluckt und die ganze Wand zum Schatten wird. Erst da bewegt er sich.
Es ist keine große Bewegung. Ein paar Schritte hinüber zum Schreibtisch - als er sich setzt, sieht er das Wasser von Riddarfjärden sich vor dem Fenster ausbreiten. Er beobachtet den verblassenden Glanz des Wassers, bis auch das Wasser von der Nacht verschluckt ist.
Er weiß, wie es ist, von der Nacht verschluckt zu sein.
Gerade jetzt fühlt er sich so, das Begehren hat Besitz von ihm ergriffen, hat ihn in dem altbekannten Würgegriff.
Als er den Computer einschaltet, dauert es ein paar Sekunden, bevor der Bildschirm aufleuchtet. In diesen Sekunden sieht er sich selbst. Erst wundert er sich darüber, dass immer noch genug Licht da ist, um ihn zu spiegeln - es muss die Hintergrundstrahlung sein, dieses Licht, dem wir nie entkommen -, dann fixiert er die Spiegelung. Die eigenartig kantige Form der Schädeldecke, die harte, männliche Kinnpartie, den Blick, der immer wirkt, als sähe er seinem Gegenüber in die Augen, der aber eigentlich auf eine Stelle unmittelbar darüber gerichtet ist, die dünnen, blutarmen Lippen.
Dann erscheint das Bild. Während der Computer auf Touren kommt, denkt der kahle Mann an sich selbst als Kind. Es ist in der letzten Zeit mehrmals vorgekommen, er kann nur schwer verstehen, warum. Dagegen hat er ja die ganze Zeit gekämpft.
Es ist ja das Kind, das er ablehnt. Es ist das Kind, das er erwachsen machen muss.
Immer und immer und immer wieder.
Er wurde ja selbst so früh erwachsen. Er wusste so früh, dass er sich befreien, dass er größer werden, erobern, siegen musste. Mit der Zeit war die Welt nicht einmal mehr gefährlich, war nur zu einem schwachen Widersacher geworden, den er ein ums andere Mal besiegen musste. Noch größer werden. Noch stärker.
Ist man erst einmal auf den Geschmack gekommen, dann verliert all das Alte seinen Reiz.
Der Kahle ist jetzt drin. Die Homepage öffnet sich. Es sind zehn neue Bilder da. Er klickt sie an.
Hauptsächlich osteuropäischer Amateurscheiß, diese Armada von Unternehmern ohne Finesse, aber mit dem Geschmack von Euro in der Fresse. Sie taugen selten etwas.
Aber dazwischen findet sich ein Bild, das das Begehren des Kahlen weckt, dieses Begehren, das genau weiß, worauf es aus ist. Es ist noch nie überrascht, noch nie überrumpelt, noch nie mitgerissen worden. Es muss nur zufriedengestellt werden, damit er weiterleben kann. Sonst stirbt er. Er ist wie ein Hai, denkt er, der weiterschwimmen muss, auch im Schlaf, denn wenn er aufhört zu schwimmen, stirbt er.
Es ist der Blick. Der Blick im Gesicht des Jungen. Es ist der Augenblick, in dem er bricht, in dem er für immer bricht, er ist tatsächlich da, in diesem neuen Bild.
Es ist unwiderstehlich. Es zieht die Hände von der Tastatur nach unten. Es ist so intensiv, dass es immer schnell geht. Während der Kahle sich abwischt, weiß er, dass das nicht genügt. Jetzt muss er bald wieder das Richtige haben, the real thing. Er weiß es.
Aber er weiß auch, dass es gefährlich ist, gefährlicher denn je. Es ist zwar ein Teil des Reizes, aber in letzter Zeit ist es zu viel des Guten gewesen. Er blickt vom Computer auf und in die kurze, kurze Juninacht hinaus. Er wendet den Blick zur Seite, und wäre es eine andere Tageszeit gewesen, hätte er auf Stockholms beliebtesten Spazierweg hinuntergeschaut. Jetzt sieht er nur Dunkel.
Der Kahle muss sich einreden, dass es ein Zufall ist. Es kann nichts anderes sein als ein bizarrer Zufall. Fünfzig Meter vor seiner Haustür. Hätten sie es gewusst, hätte er selbst dort gesessen mit einem Kopf, der nur noch an einem Hautfetzen hing.
Er hatte es im Polizeifunk gehört und sofort begriffen. Das Komische war, dass es nie an die Öffentlichkeit kam. Ein einziges Mal kurz im Polizeifunk,
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