Dunkelziffer
ihr auf ewig dankbar sein.
Vor dem Fenster fuhren gerade zwei Polizeiautos auf den Hofplatz, und Nyberg schaute auf sein Handy, auf dessen Display die Worte >Entgangener Anruf: Sara< aufleuchteten. Er warf noch einen Blick auf Robert Karlsson am Küchentisch und dachte wieder an Pädophile.
Es war ihm nie gelungen, sie auch nur im Entferntesten zu verstehen. Ein auf Kinder gerichtetes Begehren - was war das? Wollte man denn nicht etwas wecken bei dem Menschen, mit dem man Sex hatte? Das gleiche Gefühl, das der andere in einem selbst weckte?
Es gibt eigentlich nur zwei Formen von Liebe, dachte Gunnar Nyberg philosophisch, zwei Formen von Sex. Eine gebende und eine nehmende. In der nehmenden Form findet sich all das Dunkle - da ist der andere nichts als ein Instrument, um die eigene Begierde zu befriedigen. Die nehmende Sexualität ist eine Form v on Onanie. Da waren die Pädophi len wohl anzusiedeln?
Dann dachte er an Ludmila. Während die Polizeiassistenten vor dem Fenster aus den Wagen stiegen, erschien ihm ihr Körper in aller Deutlichkeit vor dem inneren Auge. All das, was er in ihm wecken und aktivieren wollte. Dieses Gefühl war stärker als seine eigene Liebe, seine eigene Erregung. Er wollte geben. Er war doch ein Geber?
Plötzlich wurde er unsicher. Wollte er wirklich nur geben? Oder eigentlich nehmen - aber indem er gab?
Die Welt war nicht ganz so einfach, wie er es sich einzubilden versuchte. War die Liebe letztlich nur Egoismus?
Er betrachtete Robert Karlssons zerfurchtes Gesicht und dachte: Aber doch nie ein solcher Egoismus. Er ging den Polizeiassistenten entgegen und drückte die grüne Taste seines Handys.
»Sara«, kam aus dem Handy.
»O Lichtgestalt«, sagte Gunnar Nyberg. »Was wolltest du?« »Nur die Lage peilen«, sagte Sara Svenhagen. »Wie läuft es bei den Pädophilen?«
»Robert Karlsson ist hier.« »Dein Eindruck?« »Kaum unser Mann.« »Sicher?«
»Andernfalls müsste er schon ein begnadeter Schauspieler sein. Das Fußvolk ist gerade eingetroffen. Ich fahre jetzt weiter zu Carl-Olof Strandberg. Mein Gefühl sagt mir, dass es dort anders wird. Und selbst?«
»Wir sind den Litauern ein bisschen näher gekommen. Ich habe Interpol ein komplettes Kennzeichen durchgegeben. Ich biege übrigens gerad e auf den Parkplatz von Gammgär den ein. Lena steht da und winkt. Wir fangen wohl jetzt sofort mit den noch ausstehenden Vernehmungen an. Wann kannst du kommen? Was glaubst du?«
»Das hängt von den Waldschraten ab«, sagte Gunnar Nyberg und beendete das Gespräch.
Sara steckte das Handy in ihre Jackentasche und stieg aus dem Mietwagen. Lena kam ihr entgegen. Im Hintergrund bewegten sich Mitglieder der Suchmannschaft und Teilnehmer der Klassenfahrt. Hier und da bellte ein Hund, vereinzelte Befehle ertönten, gedämpftes Lachen an einzelnen Stellen des Geländes klang fehl am Platz, und im Sonnenschein hingen Teenager herum, einer missmutiger als der andere.
»Was für ein unerschöpflicher Arbeitsplatz«, stieß Sara amüsiert aus, rieb sich die Hände und schlug die Wagentür zu.
Lena lächelte kurz, ohne den Blick von ihrem Notizblock zu heben.
»Wie soll die Reihenfolge aussehen?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, erwiderte Sara, »aber wir können sie nicht mehr lange hier festhalten.«
»Auf meinem Block stehen folgende Namen«, sagte Lena Lindberg. »Felicia Lunden, Jesper Gavlin, Julia Johnsson, Vanja Persson.«
»Lauter Jugendliche«, nickte Sara Svenhagen und legte den Kopf in den Nacken, damit die Sonnenstrahlen im richtigen Winkel auf ihr Gesicht fielen. »Lauter Jugendliche, und nur vertiefende Gespräche. Was ist mit den konkreten Anhaltspunkten? Die Autos mit schwedischen Nummern? Das blaue Stoffstück im Fluss?«
»Die Polizei in Sollefteä überprüft die Wagen. Und da sehe ich Jesper Gavlin und Felicia Lunden die Köpfe zusammenstecken. Schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe? Du nimmst Felicia, und ich lasse mir von Jesper den Weg durch den Wald zeigen?«
Sara öffnete die Augen und wandte der Kollegin den Blick zu. »Prima Idee«, sagte sie. Lena fragte sich, ob in Saras Stimme wirklich die Verwunderung über ihre Initiative mitschwang oder ob sie sich das nur einbildete.
Sie gingen los.
Lena packte den großen, dunklen Jesper Gavlin resolut am Arm und sagte: »Kannst du mir zeigen, wo im Fluss ihr das blaue Stoffstück gesehen habt?«
Das picklige Teenagergesicht verzog sich zu einer Miene unverblümten Widerwillens. »Durch den Wald etwa?«, stieß er
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