Dunkle Beruehrung
Ernst!
Ich liebe Italien, und Donnie ist der beste Verlobte, den ein Mädchen sich träumen kann. Aber ehrlich, Mom, ich hasse bergsteigen. Es ist kalt, es ist nass, und es gibt nur Felsen und Bäume und noch mehr Felsen und Bäume. Wenn du mich oder Donnie nach dieser Reise noch mal »Bergsteigen« sagen hörst, dann bläu uns bitte etwas Vernunft ein.
Am Samstag sind Donnie und ich in die Alpen gefahren und haben in einem hübschen Städtchen in einem wundervollen Gasthof Station gemacht. Wir hatten überlegt, tags darauf doch noch den großen Abstecher nach Berlin anzugehen, aber du weißt ja, wie Donnie wird, sobald er in die Nähe mehr als hügelgroßer Erhebungen kommt, und dann traf er auch noch diese deutschen Kletterer. Sie gerieten ins Gespräch, und dann leiht diese Gerda mir auch schon etwas von ihrer Ausrüstung, damit wir mit ihnen in die Berge gehen können.
Ich wollte das nicht. Im Ernst! Unser Reiseleiter in Rom hatte uns gewarnt, zu dieser Jahreszeit gehe man nicht klettern. Aber du weißt ja, wie Donnie ist – zeig ihm einen Geologenhammer und er schnallt sich die Stiefel an. Wie dem auch sei: Für Bergsteiger waren die Deutschen ganz nett, und Gerda hat mir geholfen, mit den anderen mitzuhalten. Dennoch hat es fünf Stunden gedauert, um vom Gasthof zu dem dummen Pass hochzusteigen, und als wir oben ankamen, war ich kurz davor, Donnie mein Frühstück in den Schoß zu kotzen. Alles war matschig und tröpfelte, und dann hat sich ein gewaltiges Schneebrett gelöst und ist den Hang runtergeschossen, einfach so! Ich schwöre: Hätten wir nicht im Schutz eines riesigen Felsens gerastet, würde dein kleines Mädchen dir diesen Brief nicht schreiben. Im Ernst.
Ich wollte dann sofort umkehren, aber ein Deutscher entdeckte einen Kletterer im Schnee, und um den armen Kerl auszugraben, mussten wir uns natürlich durch das ganze Zeug plagen, das vom Berg gekommen war. Erst dachte ich, er sei tot, doch dann öffnete er die Augen und setzte sich auf, und – das ist das Peinlichste daran – er war splitterfasernackt (mal abgesehen von dem Schlangentattoo an seinem Hals).
Max, einer der Deutschen, sagte, die Leute machen das manchmal, wenn sie unterkühlt sind: Sie werden ein bisschen seltsam im Kopf, denken, es ist nicht kalt, sondern heiß, und ziehen sich aus. Im Ernst! Zum Glück hatte Donnie Sachen zum Wechseln dabei. Sonst wäre der arme Kerl erfroren.
Verblüffend, dass er trotz Nacktheit und Lawine so gut wie unverletzt war. Er hatte zwar eine böse Schnittwunde am Kopf und war reichlich neben der Spur, aber er hatte keine Knochenbrüche oder so. Gerda meinte, er hat vielleicht einen Hirnschaden erlitten, weil er nicht reden und uns nicht mal seinen Namen sagen konnte. Und er schien uns auch nicht zu verstehen, egal, welche Sprache wir benutzten. Ich habe mein Schulfranzösisch reaktiviert, und Donnie versuchte es auf Italienisch und Spanisch – vergeblich. Auch die Deutschen haben ihre Fremdsprachenkenntnisse herausgekramt, bis Gerda schließlich meinte, er sei wohl wirklich durch die Lawine traumatisiert, und wir sollten ihn runter in den Gasthof bringen und von einem Arzt untersuchen lassen.
Ich fürchtete, es würde ewig dauern, mit dem Verletzten abzusteigen, aber er hielt mit uns Schritt und zeigte Max sogar einen schnelleren Weg ins Tal – er muss also ein erfahrener Kletterer gewesen sein. Und bevor wir den Gasthof erreichten, wirkte er auch nicht aufgeregt; dort allerdings ist er dann etwas ausgeflippt und hat sich immer wieder seltsam umgesehen, als wüsste er nicht, wo er war. Donnie meinte, das sei eine verspätete Reaktion oder so. Erst schien der Knabe direkt auf dem Parkplatz ohnmächtig werden zu wollen, dann mussten die Deutschen ihn festhalten, damit er nicht blindlings auf die Straße rannte.
Die Leute im Gasthof kannten ihn nicht, doch da er verletzt war und ausgehungert wirkte, waren sie echt nett, gaben ihm ein Zimmer und spendierten ihm ein Riesenessen. Außerdem riefen sie einen Arzt. Er kam nach der Untersuchung zu Donnie und mir und sagte, der Mann habe eine Art Gedächtnisverlust erlitten, wie er bei Menschen im Krieg häufig sei. Er nannte auch eine Abkürzung, PMS, glaube ich, aber ich weiß es nicht mehr genau.
Am nächsten Morgen bin ich fast ausgeflippt, als wir nach dem Verletzten sehen wollten und der Wirt uns sagte, er habe sich von den Deutschen einige Ausrüstungsgegenstände geliehen und sei wieder in die Berge gestiegen. Im Ernst! Man sollte denken, er
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