Dunkle Beruehrung
ihr klar, dass sie sich in Savannah befand. So kühl und feucht die Luft auch war – sie konnte den Fluss riechen und die üppige Vegetation. Auf dem Weg zur Straße bemerkte sie die Blumenbeete und die Grünpflanzen, die in ordentlichen Reihen im kleinen Hof standen. Dann drehte sie sich um und stolperte, als sie das große, stattliche Haus mit seinen eleganten Proportionen und dem verblassten, aber noch immer glitzernden, dunkelblauen Anstrich sah.
Sapphire House. Sie war unter ihrem eigenen Zuhause gefangen gehalten worden. Sie stand in ihrem Garten.
Jessa schüttelte den Kopf, wich vor dem Anblick ein paar Schritte zurück, wandte sich um und rannte los. Das war ein Albtraum, musste ein Albtraum sein, doch dann sah sie den Platz, auf dem Darien gestorben war, und die imposanten Türme von St. John und sogar den so verhassten Kaffeeladen auf der anderen Straßenseite.
Matthias hatte sie nach Hause gebracht.
Kopfschmerz marterte sie, als sie die Straße zum Fluss hinab floh. Sie wusste nicht, wohin sie rannte, nur dass sie flüchten musste. Und doch kreischten in ihr Fragen: Woher hatte er das gewusst? Warum hatte er es ihr nicht erzählt? Wie hatte er das Labyrinth unter ihrem Haus anlegen können?
Am Zugang zur Flusspromenade musste sie stehen bleiben und Luft schnappen. Dabei fiel ihr etwas ein: Darien hatte ihr nie erlaubt, in den Keller zu gehen, sondern sie mit Geschichten von Ratten und Spinnen geängstigt, die dort in dunklen Ecken lauern würden; und der Riegel der Kellertür war stets mit einem Vorhängeschloss abgesperrt gewesen.
Während ihrer Besuche in den Schulferien aber war Darien bisweilen verschwunden und erst Stunden später wieder aufgetaucht. Kein Diener hatte ihn das Haus verlassen sehen. Als sie ihren Vater einmal danach fragte, erwiderte er, er habe ein eigenes kleines Versteck im Gebäude gefunden und begebe sich dorthin, wenn er etwas Ruhe brauche. Jessa erinnerte sich auch daran, dass Geraldines sporadische Briefe ein paar seltsame Hinweise auf Maurer enthalten hatten, die ins Haus kamen und mit ihrem Vater sprachen.
Das Alter der Mauern, der seltsame Grundriss der Zimmer, die Bibliothek und der Kamin ergaben jetzt Sinn: Ihr Vater hatte es geliebt, am Feuer zu sitzen und zu lesen. Nicht Matthias hatte die unterirdische Zuflucht errichtet, sondern Darien – und er hatte dabei vermutlich die Tunnel genutzt, in denen schon sein Vorfahr Schmuggelware gelagert hatte.
Ich habe mehr Geld als ratsam in Sapphire House gesteckt
, hatte Darien zu ihr gesagt, als sie über ihre Erbschaft gesprochen hatten. Und doch erinnerte Jessa sich nicht, dass ihr Vater größere Veränderungen daran hatte vornehmen lassen oder teure Anschaffungen gemacht hatte. Sie hatten ruhig und bescheiden gelebt, und Darien hatte weder Partys gefeiert noch Geld darauf verschwendet, mit Savannahs guter Gesellschaft mitzuhalten. Tatsächlich besann sie sich nur auf eines, was ihr Vater regelmäßig angeschafft hatte: seine so sehr geliebten Bücher.
Jessa ging die Treppe zu der Seitenstraße hinunter, die zum Ufer führte. Alle Läden, Kneipen und Restaurants waren geschlossen, und sie hatte die Fußwege für sich allein. Als sie über den Fluss zum neuen, auf Hutchinson Island erbauten Hotel sah, schlang sie die Arme um die Taille. Alles, was sie gekannt hatte, war anders geworden, und jeder, den sie gemocht hatte, war verschwunden – Darien und Tag konnten ihr nicht helfen; es gab keinen, auf den sie sich verlassen konnte, keinen, der ihr sagte, was sie tun und wohin sie gehen sollte.
Sie dachte wie Minerva. Das durfte sie nicht. Sie musste sich von den Erinnerungen ebenso frei machen wie von Matthias.
Die Uhr in einem Schaufenster zeigte ihr, dass es bald drei Uhr früh war. In wenigen Stunden öffneten die Läden. Sie müsste ein Internetcafé finden und sich bei Aphrodite melden. Ihr konnte sie trauen, und Jessa wusste, dass ihre Freundin sie bei sich aufnehmen würde, so lange jedenfalls, bis sie sich im Klaren war, wie sie weiter vorgehen sollte.
»Jessa«, flüsterte jemand.
Sie drehte sich um und rechnete damit, Matthias zu sehen, doch da war nur der leere Fußweg. Rasch ging sie zur nächsten Seitengasse, die zur Straße hochführte, und als sie das Flüstern zum zweiten Mal hörte, begann sie zu laufen.
Wolken jagten vom Meer heran, verhüllten den Mond und löschten das Sternenlicht. Jessa zuckte zusammen, als über der Brücke ein Blitz zuckte und mächtiger Donner wie an dem Tag rollte, an dem
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