Dunkle Beruehrung
warum hätten sie tagsüber verheimlichen sollen, nachts zueinander ins Bett zu schlüpfen?
Um sich mit etwas anderem als mit Matthias und diesen verblüffenden Beobachtungen zu beschäftigen, saß Jessa viele Stunden am PC und suchte auf der Festplatte nach Informationen über die Takyn. Zu ihrer Enttäuschung fand sie nur die Dateien, die Matthias ihr über GenHance gezeigt hatte, dazu einige fernöstliche Kartenspiele und das Programm, mit dem sie ins Internet kamen.
Um nicht auf das angewiesen zu sein, was Matthias ihr gezeigt hatte, steuerte Jessa Nachrichtenseiten im Netz an und recherchierte die Geschäftsaktivitäten von GenHance seit Gründung des Unternehmens Ende der Achtzigerjahre. Auch wenn GenHance einen ausgezeichneten Ruf besaß, gab es so gut wie keine verwertbaren Informationen über Jonah Genaro und seine Firma. Was dazu in den Medien kursierte, stammte zumeist aus Presseerklärungen, die Genaros PR -Abteilung verfasst hatte. Das lag auch daran, dass Genaro Alleineigentümer war und GenHance trotz dessen Größe und Vielgestaltigkeit nicht an die Börse gebracht hatte. Der Konzern war deshalb eines der weltweit größten Unternehmen in Privatbesitz.
Ein altes Kurzporträt im Wirtschaftsmagazin
Forbes
, das Genaro als einen der erfolgreichsten Existenzgründer der Welt beschrieb, füllte einige Leerstellen.
»Genaro hat von seinen italienischen Großeltern neunzig Millionen Dollar geerbt«, erzählte sie Matthias eines Abends beim Essen. »Eigentlich hätten die Eltern das Geld bekommen sollen, doch die starben bei einem Autounfall in New York, als Genaro sechzehn war. Daraufhin sollte das Erbe unter allen Tanten und Onkels und deren Kindern geteilt werden, doch die übrige Familie kam drei Jahre später bei einem Schiffsunglück ums Leben. Sie segelte mit der Familienjacht zu einem ihrer Häuser in Griechenland, als die Maschinen explodierten. Niemand funkte SOS , und so brannte das Boot aus und sank, ehe jemand Hilfe bringen konnte.«
»Wahrscheinlich hat er sie umbringen lassen«, bemerkte Rowan und schob sich den letzten Bissen in den Mund.
Jessa war aufgefallen, dass das Mädchen doppelt so schnell aß wie sie und Matthias und am Tisch stets die Hand, manchmal gar den Arm um den Teller gelegt hatte, als fürchtete sie, man könnte ihn ihr wegnehmen. Rowan schien eine Hassliebe zum Essen zu haben, die Jessa verwirrte, und doch war sie bei den Mahlzeiten, die sie zubereitete, nie knauserig, sondern forderte Jessa im Gegenteil oft auf, doch mehr zu essen. Rowan blickte hoch, ertappte Jessa dabei, wie sie sie beobachtete, und zog ein finsteres Gesicht.
»Dem Artikel zufolge geschah der Unfall während seines ersten Studienjahrs in Oxford«, sagte Jessa rasch.
»Er hat sich die Hände sicher nicht schmutzig gemacht«, erwiderte Matthias, »sondern einen Killer beauftragt.«
»Wie soll ein junger Mann von neunzehn Jahren auch nur wissen, wie man es anstellt, seine gesamte Familie umbringen zu lassen?«, fragte Jessa. »Noch dazu so weit von England entfernt?«
»Er hatte neunzig Millionen sehr gute Gründe, es zu versuchen«, gab Rowan zurück. »Und ich wette, er hatte zuvor an seinen Eltern geübt.«
»Aber er ist Einzelkind.« Jessa wollte den Mann nicht verteidigen, der ihr offenbar einen Mord anzuhängen versuchte, konnte sich aber nicht denken, dass er so kaltblütig war, nicht seiner Familie gegenüber. »Er muss seine Verwandten doch geliebt haben.«
»Die einzigen Dinge, die Genaro liebt, sind Geld und Macht«, klärte Matthias sie auf. »Und doch wird er nie genug davon haben, um seinen Namen reinzuwaschen.«
»Was hat sein Name damit zu tun?«, fragte Jessa, doch er warf ihr nur einen seiner rätselhaften Blicke zu, stand auf und verließ die Küche. Gereizt wandte sie sich an Rowan: »Sie können mir vermutlich auch nicht sagen, was er meint?«
»Glauben Sie nicht alles, was Sie im
Forbes-
Magazin lesen«, war alles, was das Mädchen darauf antwortete.
Statt aus ihrem Zimmer zu schleichen und einmal mehr die Tunnel abzusuchen, hielt Jessa unter dem Vorwand, sich dauernd zu verlaufen, weiter nach Beweisen Ausschau. Sie wusste, dass Rowan und Matthias sie nachts abwechselnd durch eine Art Sicherheitssystem beobachteten, doch die beiden schienen nicht zu merken, wie oft sie sich tagsüber verlief. Dieser Trick ließ sie viel über ihre Umgebung herausfinden. Was sie für Sackgassen gehalten hatte, erwies sich als alte Stahltüren, die zu Nischen in den Betonwänden führten.
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