Dunkle Ernte
Zeit war, in die Innenstadt aufzubrechen. Jack hatte sie gestern angerufen, um sich mit ihr zu verabreden. Sie solle Handy und Auto zurücklassen, hatte er gesagt, er würde später am Nachmittag vom Flughafen kommen, sofern er es durch den Zoll schaffe.
Touristen strömten unablässig heran, um sich vor den riesigen Werbeanzeigen fotografieren zu lassen. Die Reklamebanner auf den Häuserfronten mussten eine Sensation gewesen sein, als sie neu waren, bunte Aushängeschilder für das schillernde London, doch jetzt wirkten sie nur noch schäbig und unpassend.
Amanda hatte sich ein paarmal widerstrebend bereit erklärt, eine fremde Kamera zu nehmen, und mit einem Kloß im Hals strahlende Pärchen vor dem Springbrunnen fotografiert. Ihre gegensätzlichen Gefühle, die Hoffnung, Jack gleich wiederzusehen, und die Angst, es könnte ihm etwas zugestoßen sein, überspielte sie mit einem Lächeln.
Irgendwann begann es zu dämmern, und die Luft kühlte merklich ab, als die tiefstehende Sonne schließlich der Dunkelheit erlag. Die Straßen füllten sich, Londoner in eleganten Anzügen strömten in Bars und Restaurants und plapperten lautstark in ihre Handys, sodass jeder im Umkreis hören konnte, was sie an diesem Abend noch Aufregendes vorhatten.
»Amanda«, hörte sie jemanden hinter sich sagen und spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich in Jacks Arme und drückte ihn fest an sich, die Fäuste in den Stoff seines Jacketts geballt. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah sie zu ihm hoch. Der Bart war noch da, und die Wangen sahen noch eingefallener aus als nach den drei Wochen im Pharmalabor. Doch aus seinen Augen blitzte eine neue Energie, eine unerschütterliche Entschlossenheit, etwas, das sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte.
Er strich ihr über das lange blonde Haar und atmete ihren Duft ein. Die Wärme ihres Körpers durchdrang die dünne Kleidung, die er trug. Er küsste sie auf den Mund, der süß und weich von Lippenbalsam war, er küsste sie innig, hemmungslos und ungeniert.
»Mein Vater«, sagte er mit brüchiger Stimme und löste sich leicht aus ihrer Umarmung. »Sie haben meinen Vater getötet.«
Amanda zog ihn an sich und hielt ihn stumm fest. Ohne auf den Trubel um sich herum, auf die Menschen, die sich an ihnen vorbeischoben, zu achten, blieben sie stehen, als könnten sie den Rest der Welt einfach ausblenden.
»Was sollen wir jetzt tun, Jack? Weglaufen? Die Polizei rufen?«, fragte Amanda schließlich.
Jack zuckte die Achseln. »Keine Polizei«, sagte er und drückte ihren Kopf gegen seine Schulter, während er die Passanten musterte, schon wieder in Alarmbereitschaft. »Als Erstes brauche ich was Warmes zum Anziehen.« Er schauderte. »Danach nehmen wir den alten Wagen meines Vaters und machen einen Ausflug nach Paris. Da gibt es jemanden, der uns vielleicht helfen kann.«
80
Autobahn M 20 Richtung Folkestone, 21:00 Uhr
Auf der Autobahn war nicht viel los. Der Berufsverkehr war längst vorüber. Das Schnurren des Motors und die surrenden Abrollgeräusche der Reifen vermischten sich zu dem vertrauten, einschläfernden Dauerrauschen.
»Du solltest schlafen«, sagte Amanda. »Lass mich fahren.«
Sie hatten Archies alten Volvo in Croydon abgeholt, zusammen mit ein paar Kreditkarten und ein bisschen Bargeld, das Jack in einer Schublade im Flur gefunden hatte. Der Tacho war kaputt und zeigte nie mehr als fünfundfünfzig Stundenkilometer an. Sie mussten also achtgeben und ihre Geschwindigkeit dem Verkehrsfluss anpassen, um nicht Gefahr zu laufen, wegen Tempoüberschreitung von der Polizei angehalten zu werden. Das konnten sie jetzt am wenigsten gebrauchen.
Jack erzählte, was im Kongo mit seinem Vater passiert war. Jetzt im Nachhinein klang die Geschichte vollkommen absurd.
»Sir Clive meint also, du seist tot? Und ich sei die Einzige, die ihn jetzt noch mit Centurion in Verbindung bringen kann?«
Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, nickte Jack grimmig.
Keiner von beiden sprach ein Wort.
»Er wird nicht aufgeben, Mands«, sagte Jack schließlich. »Niemals.«
Auf der Suche nach Ablenkung drehte Amanda am Sendersuchlauf des Radios, aber das verdammte Ding funktionierte nicht. Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. »Dieser Typ in Paris, zu dem wir jetzt fahren … bist du sicher, dass man ihm trauen kann?«
Jack zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe es. Wie tief man in der Scheiße steckt, merkt man erst wirklich, wenn man einen Waffendealer um Hilfe bitten
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