Dunkle Ernte
Alkohol kam. Er nahm Jacks Handgelenk, zog die billige Casio ab und streifte ihm stattdessen die Omega über. Sein Griff war eisenhart, sodass Jack überrascht zusammenzuckte und verunsichert in das angespannte Gesicht vor ihm sah.
»Versprich mir, dass du sie nicht ausziehst«, verlangte Archie.
Jack spürte, wie sein Handgelenk unter der Umklammerung seines Vaters taub wurde.
»Versprich es mir.«
»Schon gut, schon gut«, gab Jack schließlich nach.
Archie löste seinen Griff und lächelte in die Ferne, während Jack sich den Arm rieb, um den Blutfluss wieder in Gang zu bringen. »Dieses Stück Metall hat mehr erlebt als die meisten Soldaten in ihrer gesamten Dienstzeit«, sagte Archie stolz. »Betrachte es als Talisman, der dich beschützen soll. Wie der Ring in diesen Harry-Potter-Filmen.«
Jack musste lächeln. »Wie du meinst, Dad.« Es hätte keinen Sinn gehabt, seinen Vater zu verbessern.
Archie sah Jack durch das Fenster nach, als er sich die Straße entlang vom Haus entfernte. Eines stand fest: Er würde die Sicherheit seines Sohnes nicht dem MI 6 überlassen. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass die meisten Agenten vom Secret Service nicht einmal ordentlich geradeaus schießen konnten. In seiner Schulter steckte noch eine Kugel, die ihn hin und wieder schmerzhaft daran erinnerte, dass er in den Achtzigern bei einem Einsatz gegen die IRA mit einigen von ihnen zusammengearbeitet hatte.
Er griff in den Schrank, in dem er die Uhr aufbewahrt hatte, und zog ein Ledermäppchen heraus, dem er einen Apparat mit Display entnahm: ein altes Ortungsgerät, ein Relikt aus den Zeiten des Kalten Krieges. Er hatte es vor seiner Entlassung in einem Warenlager mitgehen lassen, die Batterie gewechselt, ein bisschen damit herumexperimentiert und ein paar Modifikationen vorgenommen. Es funktionierte ganz gut, hatte aber nur eine Reichweite von ein paar hundert Kilometern.
Nein, er würde Jacks Wohl nicht dem MI 6 überlassen. Er würde ihm in sicherem Abstand folgen. Er wollte seinen zweiten Sohn nicht auch noch verlieren.
21
The Wolseley, Piccadilly Boulevard, London
Monsieur Blanc saß an einem Ecktisch im The Wolseley, wo man angeblich das beste Frühstück in ganz London bekam. Bislang hatte er eine salzige Masse probiert, die wie Tapetenkleister auf Haferbasis schmeckte, und ein paar scharfe Würstchen, die ihm mehr zusagten. Er wollte sich gerade über seine Eier Benedict hermachen, als ihm eine nervös aussehende weibliche Gestalt ins Auge fiel, die sich zögerlich durch die Armee von Kellnern bewegte und sich in der edlen Umgebung sichtlich unwohl fühlte.
Monsieur Blanc dagegen fühlte sich hier wie zu Hause, zumal ihn die hohen Decken, die holzvertäfelten Wände und der schwarzweiße Marmorboden an das Atrium seines Châteaus in Südfrankreich erinnerten.
» Bonjour, ma très chère «, begrüßte er sie, stand auf und setzte ein verbindliches Lächeln auf.
Ihr Nicken war von einem schüchternen Blick in die Runde begleitet, ihre Haltung ein Abbild der Verlegenheit. Mary Dalkeith war nicht für den operativen Dienst ausgebildet und hatte keinerlei Talent zur Täuschung, und genau deshalb hatte Sir Clive sie ausgesucht, um Informationen an Monsieur Blanc durchsickern zu lassen. Ihre Unbeholfenheit würde als Angst gedeutet, ihr Unbehagen als schlechtes Gewissen.
»Ich halte ja nichts von persönlichen Treffen. Es lohnt nicht, das Risiko einzugehen«, erklärte sie und sah sich dabei verstohlen um. Monsieur Blanc musterte sie eingehend. Ihre Nervosität schien echt zu sein. Er hatte sie eigens zu einem Treffen eingeladen, um sie persönlich kennenzulernen. Zweimal war er bereits nach ihren Informationen tätig geworden, zuerst bei dem Überfall auf das Labor und dann bei dem Versuch, sich den jungen Mann zu schnappen. Beide Male war etwas schiefgegangen. Er schätzte es nicht, wenn etwas schiefging. Das machte ihn misstrauisch und nervös.
»Tut mir leid. Mir ist klar, dass Sie damit ein Risiko eingehen. Aber nach dem, was Sie am Telefon angedeutet haben, hielt ich es für das Beste, wenn wir uns an einem neutralen, öffentlichen Ort treffen.« Sie hatte ihren Mantel noch nicht ausgezogen. Entweder war sie tatsächlich, was sie zu sein vorgab, nämlich eine Softwareentwicklerin, die im Keller des MI 6 saß und programmierte und kaum je ans Tageslicht kam, oder sie war eine fantastische Schauspielerin. Er betrachtete sie genauer, die blassblauen Augen, das graue, altmodisch geschnittene Haar, den
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