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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mockler
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fragten ihn nicht nach seinem Namen, sprachen keine Drohungen aus. Secret Service, kein Zweifel. Sie waren so anders als normale Soldaten. Als hätten sie Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn sie ein Gespräch begannen und menschliche Regungen zeigten.
    Archie war nie so gewesen. Er hatte einem Mann stets in die Augen gesehen, ihm eine letzte Zigarette angeboten. Seine Macht bestand schon immer darin, dass ihm alles egal war. Auch jetzt. Er empfand weder Angst noch Reue. Jack war genauso, das hatte er in dem heranwachsenden jungen Mann erkannt.
    Er hatte gegen die engen Wände seines Gefängnisses getreten, so fest und so lange er konnte, bis seine Wut verraucht war, verwandelt in Dellen und Verformungen, die er der Metallhülle um sich herum zugefügt hatte. Seine Entführer waren einfach in eine ruhige Seitenstraße eingebogen und hatten abgewartet, bis er sich verausgabt hatte. Das Schicksal, das er so vielen anderen bereitet hatte, war ihm jetzt selbst beschieden. Seine Dämonen hatten menschliche Gestalt angenommen und standen lässig hinter ihm, um Rechenschaft von ihm zu fordern, Rechenschaft für alles, was er getan hatte. Sie zogen ihm die Haube ab. Er warf einen Blick über die Schulter. Sie trugen keine Masken – ein Zeichen dafür, dass sie ihm keine Gelegenheit lassen würden, sie später wiederzuerkennen. Und jung sahen sie aus, wie ein paar junge Leute auf dem Weg zu einem Fußballspiel oder in den Pub.
    Er dachte an Jack. In welche Welt war sein Sohn da hineingeraten? Wenn er etwas bereute, dann dass er den Jungen nicht gezwungen hatte, sich dem Ganzen zu entziehen, solange er noch die Chance dazu hatte. Andererseits, er hätte ohnehin nichts ausrichten können. Jack war viel zu eigenwillig und konnte es gar nicht erwarten, sich zu erproben. Das war schon immer so gewesen. Er hatte sich stets doppelt so eifrig in alles gestürzt wie alle anderen, ganz gleich ob es um Fußball, um sein Studium oder ums Feiern ging, das ihn als Teenager beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Als wollte er erfolgreich genug für zwei sein, als wollte er das Fehlen seines Bruders kompensieren.
    Archie fiel einer seiner Kameraden aus der Zeit in Neapel ein, der ihm erzählt hatte, was der Junge für ein begabter Kämpfer sei, dass sich in ihm kaltschnäuzige Skrupellosigkeit mit perfekter Balance, messerscharfen Reflexen und erstaunlicher Muskelkraft verbänden. Archie hatte damals eine seltsame Mischung aus Stolz und Besorgnis empfunden. Jack war ein Kämpfer wie er selbst, nur dass der Junge von seiner Mutter auch noch eine außergewöhnliche Intelligenz geerbt hatte.
    Den Tod vor Augen, in einer verlassenen Lagerhalle kniend, spürte Archie, wie die Angst um seinen Sohn verflog und einem neuen, tröstlichen Gefühl Platz machte: der Gewissheit, dass Jack perfekt gerüstet war, was auch immer das Leben – oder der Secret Service – für ihn bereithielt, viel besser, als er selbst es je gewesen war. Er wusste, dass sein Sohn einen Ausweg finden, dass er irgendwie wieder nach Hause gelangen würde. Er wandte sich seinen Henkern zu, mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht zu deuten wussten, einem Selbstvertrauen, das weder Worte noch Drohungen brauchte, um Wirkung zu zeigen.
    »Hören Sie, ich werde nicht versuchen, Sie von Ihrer Arbeit abzuhalten. Befehl ist Befehl«, fing Archie an. »Aber Sie sollten eines wissen. Wenn Sie jetzt den Abzug drücken, wird Sie eines Tages ein junger Mann …«, er korrigierte sich, »ein Mann holen. Nicht jetzt, nicht gleich. Aber in einem Jahr, vielleicht auch später. Er wird Sie holen, und er wird dabei so schnell sein, dass Sie ihn gar nicht wahrnehmen. Er wird Sie töten, im Schlaf, auf dem Weg zur Arbeit oder zum Abendessen mit Ihrer Freundin.« Er hielt inne und sah jedem von ihnen in die Augen. »Wenn Sie jetzt schießen, sind Sie alle drei nur noch lebende Tote.«
    Er sprach ganz ruhig, ohne dramatischen Unterton, als wäre es gar nicht seine Absicht, ihnen zu drohen. Er war nüchtern und gelassen und so zuversichtlich im Angesicht des Todes, dass die drei MI 6-Agenten unwillkürlich kurze Blicke tauschten. Befehle waren Befehle, man befolgte sie, ohne zu fragen, aber das schloss nicht aus, dass man weitere Konsequenzen zu fürchten hatte.
    Der Offizier mit der Waffe trat vor und drückte Archie den Lauf an die Stirn. »Das reicht«, sagte er, den Finger am Abzug, bereit, das Ziel auszuschalten. Doch dann beging er einen Fehler. Er zögerte eine Millisekunde zu

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