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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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September
    »Wieso kommen Sie erst jetzt damit?«, wollte Joesbury wissen. Es war eine Stunde später, kurz vor vier Uhr früh, und er stand hinter Tullochs Schreibtisch und beugte sich über ihre Schulter. Beide starrten auf den Brief. Emma hatte Wort gehalten; sie hatte ihn gescannt und mir ins Büro gemailt.
    »Ich wollte sicher sein«, antwortete ich und wusste genau, wie dürftig das klang. »Ich habe Zeit gebraucht, um das alles nachzulesen.« Dürftig wie nur was, aber immer noch sehr viel besser als: »Ich wollte mich nicht vor Ihnen zum Affen machen.«
    Tulloch sah aus, als gäbe sie sich alle Mühe, nicht zu gähnen. »Haben Sie das Original gesehen?«, fragte sie.
    Ich nickte.
    »Die Schrift ist rot?«, bohrte sie. »Bitte sagen Sie mir, dass das Ding irgendwo sicher verwahrt ist.«
    »Emma wollte mir den Brief nicht geben«, erwiderte ich. »Aber es sah aus, als würde sie gut darauf aufpassen. Sie hat ihn in eine Plastikhülle gesteckt. Hat auch den Briefumschlag aufgehoben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit roter Tinte geschrieben war.«
    »Der Fleck da unten in der Ecke sieht nicht aus wie Tinte«, knurrte Joesbury. »Wieso verdammt noch mal haben Sie mir nicht im Pub davon erzählt?«
    »Mark, lass es gut sein«, seufzte Tulloch. »Du weißt genauso gut wie ich, dass die Zentrale seit Freitagabend total überlastet ist, weil ständig irgendwelche Spinner anrufen.« Wieder sah sie mich an. »Ich weiß überhaupt nichts über Jack the Ripper«, sagte sie. »Wie, haben Sie gesagt, nennt man diese fünf Morde? Die, von denen man glaubt, sie seien das Werk des Rippers?«
    »Kanonisch«, antwortete ich.
    »Was heißt das? Klingt irgendwie religiös.«
    »Als klassisches Muster dienend«, erklärte Joesbury. »Die Dinge auf ihre simpelste Form reduzierend.«
    Tulloch sah ihn verständnislos an. »Ich verstehe immer noch nicht …«
    »Niemand weiß wirklich, warum sie so genannt werden«, sagte ich. »Das ist einfach Tradition bei den Leuten, die sich als Ripperologen bezeichnen. Fünf von den Morden, begangen zwischen April und Dezember, werden die ›Kanonischen Fünf‹ genannt.«
    Joesbury zog eine Braue hoch. Sein rechtes Auge war immer noch blutunterlaufen. »Wieso wissen Sie so viel über Jack the Ripper?«, wollte er wissen.
    Ich sagte ihm nicht, dass Jack die historische Gestalt war, die mich am meisten faszinierte. Irgendwie bezweifelte ich, dass das gut ankommen würde. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich interessiere mich für Kriminelle«, antwortete ich. »Hab ich immer schon getan. Gehen nicht viele Leute deswegen zur Polizei?«
    »Und die erste von diesen ›Kanonischen Fünf‹ hieß Polly?«, fragte Tulloch. »Sind Sie sich da sicher?«
    Ich nickte. »Genau genommen hieß sie Mary Ann. Aber alle kannten sie als Polly.«
    Tulloch warf Joesbury einen raschen Blick zu. Er starrte einen Moment lang zurück und zuckte dann die Achseln.
    »Wieso ist das …?«, setzte ich an.
    Tulloch brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen, während sie nach dem Telefon griff und eine interne Nummer wählte. »Besorgen Sie die Protokolle aller Anrufe, die seit Freitag in der Zentrale eingegangen sind«, ordnete sie an. »Lassen Sie jemanden durchzählen, wie oft Jack the Ripper erwähnt wird. Ja, Sie haben richtig gehört, Jack the Ripper. Sofort.«
    Sie legte auf und sah mich abermals an. Dann öffnete sie den Mund, aber Joesbury kam ihr zuvor.
    »Hat der Ripper nicht Briefe geschickt?«, fragte er. »Hat die Polizei damit verspottet, soweit ich mich erinnere.«
    »Damals wurden massenhaft Briefe verschickt«, sagte ich. »Nicht nur an die Polizei, sondern auch an die Zeitungen. Sogar an Privatleute. Im Allgemeinen hält man sie für nicht echt. Sind nicht wirklich vom Mörder.«
    »Ich hab da mal so einen Film gesehen. War nicht in einem von den Briefen ein Körperteil drin?« Jetzt lehnte Joesbury am Fensterbrett. »Allerdings hat sich dann rausgestellt, dass Queen Victorias Enkel der Ripper war.«
    »Jemand hat wirklich dem Anführer einer Bürgerwehrgruppe eine menschliche Niere geschickt«, bestätigte ich. »In einem Brief, der angeblich From Hell kam, aus der Hölle. Und einem der Opfer fehlte tatsächlich eine Niere. Aber damals gab es noch keine Möglichkeit festzustellen, ob es wirklich ihre war oder nur wieder ein schlechter Scherz.«
    »Bei Geraldine Jones hat nichts gefehlt«, gab Tulloch zu bedenken.
    »Derjenige, der Geraldine Jones umgebracht hat, hatte keine Zeit, Souvenirs

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