Dunkle Gebete
Morde auf. Jack verschwand und ließ eines der langlebigsten Kriminal-Mysterien zurück, die die Welt jemals gekannt hat.
Ich lehnte mich eine Weile zurück und versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sich im viktorianischen London zugetragen hatte, und dem Mord, den ich vor vierundzwanzig Stunden beinahe mit angesehen hätte.
Zu meiner erheblichen Erleichterung gelang es mir nicht. Mit einem wohlhabenden Ehemann, einer Familie, einem hübschen Haus und einem Job war Geraldine Jones das genaue Gegenteil der Frauen, auf die Jack es abgesehen hatte. Die damaligen Opfer waren aufs Geratewohl ausgesucht worden, waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Geraldine musste aus irgendeinem Grund in diesem Teil Londons gewesen sein. Und Kennington war weit weg von Whitechapel.
Zugegeben, Jones’ Verletzungen hatten große Ähnlichkeit mit denen, die mehr als einem Ripper-Opfer zugefügt worden waren, doch der 31. August entsprach nicht einmal dem Jahrestag des ersten Ripper-Mordes. Der Tod von Polly Smith an diesem Tag war der dritte Mord gewesen. Der erste, an Emma Smith, hatte Anfang April 1888 stattgefunden, und der zweite, Martha Tabram, am 7. August.
Trotzdem machte mir irgendetwas zu schaffen. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Entschlossen, nichts unversucht zu lassen, überprüfte ich, ob es in diesem Jahr andere Morde in London gegeben hatte, genau genommen in den ersten beiden April-und Augustwochen. Von zu Hause aus hatte ich keinen Zugriff auf die Computer der Londoner Polizei, doch ich durchsuchte die diversen Nachrichtenseiten, die über Ereignisse in der Hauptstadt und im Umland berichten.
Nichts. Am 5. August hatte es eine Schießerei gegeben, doch der Betroffene, ein Neunzehnjähriger aus Grenada, erholte sich im Krankenhaus von seinen Verletzungen. Nichts Anfang April. Es gab keine Verbindung. Warum konnte ich also nicht einfach ins Bett gehen?
Selbst die ähnliche Todesart bedeutete nichts. Der ursprüngliche Ripper hatte sich nicht an einen bestimmten Modus operandi gehalten, er ging jedes Mal ein wenig anders vor. Es gab keinen Nachahmungstäter. Der Brief, der an Emma Boston geschickt worden war, war ein dämlicher Scherz, vielleicht sogar Emmas eigenes Werk, um an Insider-Informationen über die Ermittlungen heranzukommen. Ich hatte genug.
Ich druckte ein paar Seiten mit zusammengefassten Informationen aus, die ich morgen dazu benutzen konnte, das Team kurz auf den neuesten Stand zu bringen, klappte den Laptop zu und überprüfte noch einmal die Haustür. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass sie wahrscheinlich ein stabileres Schloss brauchte. Etwas, worüber ich mir bisher noch nie Gedanken gemacht hatte. Ich nahm die Ausdrucke, um sie für morgen früh in meine Tasche zu stecken. Auf halbem Weg durchs Schlafzimmer fiel mir die Absatzüberschrift in der Mitte der ersten Seite ins Auge. Ein einziges Wort, das mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Kanonisch.
Elf Whitechapel-Morde. Wenige Menschen, wenn überhaupt irgendjemand, glaubten, dass sie alle das Werk von Jack the Ripper gewesen waren. Fachleute stritten sich endlos darüber, wer ein echtes Ripper-Opfer gewesen sei und wer nicht. Emma Smith mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Bei Martha Tabram war man sich nicht einig. Ich persönlich neigte eher zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich keins war. Ihre Verletzungen, mehrere Stichwunden von einer Art Bajonett, unterschieden sich sehr von den folgenden Morden. Polly Nichols dagegen, Nummer drei, da hatte niemand Zweifel. Sie wurde am letzten Tag im August getötet und war die erste der »Kanonischen Fünf«.
Der Wecker auf dem Nachttisch verriet mir, dass es drei Uhr morgens war. Ich habe ja schon gesagt, dass London niemals still ist. Jetzt war es aber still. Ich konnte keinen Laut hören. Nicht den Verkehr draußen, nicht die Leute in den Wohnungen über mir, nicht einmal das Geräusch meines eigenen Atems.
Der 31. August, der Abend, an dem Geraldine Jones getötet worden war, war der Jahrestag des ersten unumstrittenen Ripper-Mordes. Noch einmal überprüfte ich meine Aufzeichnungen. Ihre Verletzungen waren praktisch identisch mit denen, die Polly Nichols zugefügt worden waren, und wer auch immer Geraldine Jones umgebracht hatte, war spurlos verschwunden.
Ich würde Tulloch und Joesbury aufwecken müssen, wahrscheinlich mit ein und demselben Telefonanruf. Würde mich das nicht unheimlich beliebt machen?
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Sonntag, 2.
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